GIGA Focus Global

Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: Multilateralismus reformieren

Nummer 2 | 2020 | ISSN: 1862-3581


  • Teilnehmer der Konferenz "Alliance for Multilateralism".
    © Photothek.net
    Teilnehmer der Konferenz "Alliance for Multilateralism".
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    Am 1. Januar 2019 begann die zweijährige Amtszeit Deutschlands als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zu Beginn der zweiten Halbzeit wird in diesem GIGA Focus Bilanz darüber gezogen, was Deutschland bislang erreicht hat. Es werden Herausforderungen aufgezeigt und daraufhin Strategien vorgeschlagen, mit denen Deutschland die Reichweite und Wirkung seiner Arbeit steigern kann.

    • Deutschland verdient für seine Erfolge im Sicherheitsrat auf drei Ebenen Anerkennung. Auf Makroebene wurde die weltweite Debatte über den Multilateralismus wiederbelebt und bereichert. Auf Handlungsebene wurden nützliche und detaillierte Maßnahmen vorgeschlagen. Und es wurden hilfreiche Schritte auf symbolischer Ebene unternommen.

    • Die diplomatischen Bemühungen Deutschlands, mehr Unterstützung für den Multilateralismus zu gewinnen, stehen vor diversen Herausforderungen. In der deutschen Wählerschaft herrscht Unklarheit darüber, was Multilateralismus eigentlich bedeutet. Und obwohl Deutschland versucht, unter anderem durch seine Initiative „Allianz für Multilateralismus“ die internationale Unterstützung auszubauen, wird nicht deutlich, von welchen Werten das Konzept getragen wird oder wen Deutschland als seine wahren Verbündeten betrachtet.

    • Die führenden Kräfte der deutschen Außenpolitik schenken den Werten, die dem Multilateralismus zugrunde liegen sollten, nicht genügend Aufmerksamkeit. Bislang haben sie es weitgehend versäumt, ein überzeugendes Narrativ dafür zu entwickeln. Zudem ignorieren sie eine grundlegende Gefahr für die bestehenden multilateralen Institutionen, die daraus erwächst, dass „Interdependenz als Waffe“ instrumentalisiert wird. Wenn Deutschland sich diesen drei Problemen nicht widmet, wird es schwer sein, sinnvoll und konstruktiv auf die Diskussion über Multilateralismus und auf dessen Praxis einzuwirken.

    Fazit

    Deutschland müsste a) die Werte, die seiner eigenen Außenpolitik zugrunde liegen (sollten), grundsätzlich neu denken und prüfen, wie sich diese mit den Bestrebungen zur Reform des Multilateralismus verbinden lassen, b) ein gewinnendes und nachhaltiges Narrativ für den Multilateralismus entwickeln und c) sich unter Berücksichtigung geoökonomischer Erwägungen mit Ideen für eine grundlegende Reform multilateraler Organisationen auseinandersetzen.

    Am 1. Januar 2019 begann die zweijährige Amtszeit Deutschlands als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC). Dass Deutschland diese Position zum sechsten Mal seit Bestehen der Vereinten Nationen innehat, macht diese Wahl nicht weniger bedeutsam: In einem Moment, in dem der Multilateralismus von mehreren Seiten ernsthaft infrage gestellt wird, wiegt die Last der Verantwortung auf den Schultern der Mitglieder ganz besonders schwer. Erwähnenswert ist auch, dass Deutschland seine Entscheidung, sich für einen nichtständigen Sitz im UNSC zu bewerben, im Rahmen der GIGA Distinguished Speaker Lecture Series mit dem programmatischen Vortrag des damaligen Außenministers (und heutigen Bundespräsidenten) Frank-Walter Steinmeier am 27. Juni 2016 offiziell bekannt gegeben hat. Die Geschichte der Initiative ist also in mancher Hinsicht sehr schön mit der Geschichte unseres Forschungsinstituts verknüpft.

    Dieser GIGA Focus besteht aus drei Abschnitten. Der erste liefert eine Einschätzung der bisherigen Bilanz Deutschlands im UNSC. Auch wenn erst die Hälfte seiner Amtszeit vergangen ist, verdient Deutschland Anerkennung für einige bedeutsame Erfolge. Der zweite Abschnitt geht auf die Herausforderungen und Einschränkungen ein, denen sich Deutschland noch stellen muss. Im dritten Abschnitt geht es um politische Maßnahmen, mit denen diesen Herausforderungen begegnet werden könnte.

    1. Warum die Anstrengungen Deutschlands wichtig sind

    Der UNSC ist nicht das einzige multilaterale Forum, in dem sich Deutschland proaktiv engagiert. Um nur eine Handvoll Beispiele zu nennen: Im Dezember 2016 tagte der Ministerrat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Deutschland; mit seiner G20-Präsidentschaft führte Deutschland im Juni 2017 den Vorsitz beim Gipfel und moderierte in dieser Funktion die multilaterale Zusammenarbeit in mehreren Themenbereichen, vom Handel über Überkapazitäten in der Stahlproduktion bis hin zur Agenda 2030 und dem Compact with Africa (auch Marshallplan mit Afrika). In diesem Jahr, im Januar 2020, wurde Deutschland als eines von 47 Mitgliedern in den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gewählt. Im Juli 2020 wird es turnusmäßig den Vorsitz des Europarats übernehmen. Wie sehr Multilateralismus im modernen Deutschland verankert ist, bringt Thomas Bagger wunderbar auf den Punkt:

    „War ‚nie wieder‘ die erste fundamentale Lehre aus dem zivilisatorischen Niedergang während der Nazizeit, mit der man sich der Herausforderung der deutschen Geschichte stellen wollte, so lautete der zweitwichtigste, tief verwurzelte Imperativ ohne Zweifel: ‚Niemals allein‘. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 bildete der Multilateralismus den Kern der deutschen Außenpolitik. Er sollte den zweiten Teil der ‚deutschen Frage‘ lösen, die Herausforderung der Geografie, die ein Land in der Mitte des Kontinents platziert hatte, das ‚zu groß für Europa, zu klein für die Welt‘ war. Wenn irgendetwas diese Überzeugung noch verstärkt hat, dann die deutsche Lesart, wie die Vereinigung nach 1989 schließlich Wirklichkeit wurde.“ (Bagger 2019)

    Deutschlands aktuelle Bestrebungen zur Stärkung des Multilateralismus wurzeln also in der Identität des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg und in seinem Willen, sich in die Gemeinschaft der europäischen Nationen und in die Weltgemeinschaft zu integrieren. In diesem Sinne ist das deutsche Engagement in multilateralen Institutionen nichts Neues. Aber der internationale Kontext des Multilateralismus selbst hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert.

    Aus verschiedenen Gründen ist die multilaterale Zusammenarbeit ungefähr seit der Jahrtausendwende erlahmt. Zu diesen Gründen gehören der Aufstieg neuer Mächte (z.B. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), deren Vorstellungen von einer globalen Ordnung sich zum Teil von denen der etablierten Mächte unterscheiden, sowie institutionelle Unzulänglichkeiten, die dazu führten, dass sich bestehende Regeln der Beschlussfassung für einen großen und diversifizierten Kreis von Mitgliedstaaten nicht mehr eigneten (z.B. das Konsensprinzip in einer Welthandelsorganisation, die inzwischen über 160 Mitglieder zählt). Das Problem hat sich in den letzten Jahren verschärft, nicht zuletzt durch den immer stärkeren Rückzug der USA aus dem System. Diesen Trend gab es schon, bevor Präsident Trump die Bühne betrat: Schon Präsident Obama hatte zu verstehen gegeben, dass die USA nicht immer die Hauptverantwortung tragen wollten, wenn es darum geht, globale öffentliche Güter bereitzustellen („Trittbrettfahrer ärgern mich“, Goldberg 2016). Präsident Trump hat diese Kritik noch weitergetrieben, zum Beispiel, als er über die WTO herzog und sie als „schlimmsten Deal aller Zeiten“ bezeichnete. In seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2019 forderte er mit seiner unverhohlenen Ablehnung des „Globalismus“ den Multilateralismus zumindest unterschwellig heraus:

    „Für kluge Staatsoberhäupter haben das Wohl ihres eigenen Volkes und ihres eigenen Landes immer die höchste Priorität. Die Zukunft gehört nicht den Globalisierungsfreunden. Die Zukunft gehört den Patrioten […] Der Globalismus hatte auf frühere Präsidenten eine geradezu religiöse Anziehungskraft und hat sie dazu gebracht, die nationalen Interessen ihres eigenen Landes zu ignorieren. Doch soweit es Amerika betrifft, sind diese Zeiten vorbei.“ (Trump 2019)

    Auch ist die erklärte Geringschätzung des Präsidenten für den Globalismus – und seine multilateralen Instrumente – nicht nur „hohles Gerede“. Mit ihrem Rückzug aus dem Pariser Abkommen und der vollständigen Lähmung des Streitbeilegungsmechanismus in der WTO (durch die Blockade der Ernennung bzw. Wiederernennung von Mitgliedern der Berufungsinstanz) haben die USA nicht nur mit Worten, sondern auch in Taten kurzen Prozess mit multilateralen Regeln und Institutionen gemacht. Nachdem der Gründer und Garant des Nachkriegssystems globaler Governance – und nach wie vor die Hegemonialmacht der Welt, wenn auch auf vergleichsweise niedrigerem Niveau – eine solche Bereitschaft zeigt, sich von den Regeln zu verabschieden, die er einst selbst geschaffen und geschützt hat, braucht der Multilateralismus jede Unterstützung, die er bekommen kann. Vor diesem schwierigen Hintergrund sind die von Deutschland angeführten Bemühungen umso anerkennenswerter.

    Gemeinsam mit anderen internationalen Akteuren (vor allem Frankreich) bemüht sich Deutschland ganz bewusst, den Multilateralismus zu verteidigen und wieder mehr Unterstützung dafür zu gewinnen. Dies erfolgt auf drei Ebenen: auf der Makroebene, auf Handlungsebene und auf symbolischer Ebene.

    Auf der Makroebene hat Deutschland ganz wesentlich das Bewusstsein dafür geschärft, dass der Multilateralismus weiterhin von großer Bedeutung ist, auch wenn er von den USA infrage gestellt und untergraben wird. Vergleicht man etwa die Rede von Heiko Maas vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der von Trump, dann fallen die Gegensätze sofort ins Auge:

    „Wer sein Land liebt, der setzt auf Zusammenarbeit. Denn nur so haben wir alle eine Zukunft. Nachhaltige Außenpolitik, das ist multilaterale Außenpolitik. Auf diesem Gedanken gründen die Vereinten Nationen. Er leitet auch die deutsche und europäische Außenpolitik. […]

    […] Zusammenarbeit ist alles andere als Verrat am eigenen Land. Sie schafft vielmehr die Voraussetzung dafür, dass es unseren Ländern gut geht.“ (Maas 2019)

    Deutschland stärkt dieses Plädoyer für die Wertschätzung der internationalen Zusammenarbeit in multilateralen Institutionen – gemäß dem Motto „niemals allein“ – mit einer innovativen Idee: einer Allianz für Multilateralismus. 2018 schlug Heiko Maas bei der Botschafterkonferenz in Berlin das folgende Konzept vor:

    „Dabei schwebt uns ein Netzwerk von Partnern vor, die gemeinsam für den Erhalt und die Weiterentwicklung der regelbasierten Ordnung eintreten. Die den Multilateralismus verteidigen. Die bereit sind, dafür auch politisches Kapital einzusetzen, weil sie verstehen, was Multilateralismus im Kern bedeutet. Multilateralismus heißt, auch dann in eine Ordnung zu investieren, wenn ich daraus nicht unmittelbar, nicht heute schon einen Vorteil ziehe. Aber in dem sicheren Wissen, dass ich mich auf diese Ordnung verlassen kann, wenn ich selbst einmal darauf angewiesen bin.“ (Maas 2018a)

    Die Idee, eine Gruppe gleichgesinnter Länder um das Konzept des Multilateralismus herum zusammenzuschmieden, war sicher ein guter Ausgangspunkt, allerdings war die Kandidatenliste anfänglich nicht sonderlich originell. So erwähnte Maas etwa in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt Kanada, Japan und Südkorea (Maas 2018b). Wenn das die Gruppe der Kernstaaten sein sollte, dann könnte die Allianz zu einem erneuten Versuch verkommen, einen elitären Klub liberaler Demokratien zu gründen, der zu den bereits Bekehrten predigt. Daraufhin gab es Kritik (z. B. Narlikar 2019). Fairerweise muss man gegenüber dem Außenminister und seinem Team einräumen, dass in den Monaten danach weitere potenzielle Partnerländer angesprochen wurden. Bei ihrem ersten Treffen, das im September 2019 von Frankreich und Deutschland gemeinsam organisiert wurde, machte die Allianz nicht mehr den Eindruck eines „Clubs der Reichen“ und band etwa 50 Länder aus den verschiedenen Weltregionen ein (Alliance for Multilateralism 2019). Indien zum Beispiel, ein Land, das sich seit jeher nur mit äußerster Vorsicht „Allianzen“ anschließt, veröffentlichte im September eine begeisterte Pressemitteilung, in der die Initiative unterstützt wird:

    „Mit großer Freude schließt sich Indien der Allianz für Multilateralismus an und begrüßt die Initiative Frankreichs und Deutschlands. Wir tun dies, weil wir davon überzeugt sind, dass der Multilateralismus wichtig, wirklich wichtig ist, und dass er heutzutage durch Nationalismus und Merkantilismus unter Druck geraten ist. Die Kindleberger-Falle, der Mangel an globalen Gütern, ist viel schlimmer als die Thukydides-Falle […].“ (India Statement 2019)

    Frankreich und Deutschland haben gemeinsam dazu beigetragen, die Vorzüge des Multilateralismus ins Bewusstsein zu rufen. Sie haben verschiedene Akteure daran erinnert, dass die daraus erwachsenden Vorteile keine Selbstverständlichkeiten sind. Und mit der Allianz für Multilateralismus hat Maas potenziell eine Gruppe wichtiger internationaler Unterstützer für das Konzept ins Leben gerufen.

    Die kollektive Führungsrolle, mit der Deutschland den Multilateralismus vorantreibt, erfordert insbesondere auch, die aktuelle Praxis des Multilateralismus in den Blick zu nehmen. Mit mehreren Maßnahmen hat Deutschland im vergangenen Jahr wichtige Dimensionen aufgezeigt, die in Sicherheitsdebatten berücksichtigt werden sollten (Prager 2019). Neben der Befassung mit aktuellen Konflikten in Libyen, Syrien und Iran hat Deutschland auch die Bedeutung der Konfliktprävention hervorgehoben und erklärt: „Wir wollen die Arbeit des UN-Sicherheitsrats strukturell verändern. Derzeit befassen wir uns mit Krisen, Konflikten und Kriegen erst, wenn diese bereits in vollem Gange sind. Wenn Menschen sterben, dann reicht es nicht, wenn sie verhungern oder verdursten. Sie müssen erst Opfer von Waffengewalt werden“ (UN 2019). Gemäß dem Aufruf an die Weltgemeinschaft, ihr Verständnis von Sicherheit zu erweitern, bemüht sich Maas besonders darum, das Problembewusstsein für die Auswirkungen des Klimawandels auf Konflikte zu heben. Auch Deutschlands Engagement für die Resolution 2467 zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt in Konflikten war ein wichtiger Schritt, um den Sicherheitsdebatten eine menschliche Dimension zu verleihen, die unabdingbar ist (UN 2019). Darüber hinaus weist Deutschland darauf hin, dass eher traditionelle Anliegen, wie etwa die Abrüstung, wieder auf die Agenda gesetzt werden müssen.

    Anerkennung verdient Deutschland nicht nur, weil es der Debatte über den Wert des Multilateralismus einen Rahmen gegeben hat und die Dinge in täglicher Kleinarbeit konkret in die Wege leitet, sondern auch für einige symbolische Maßnahmen. Zum ersten Mal seit 1964 ließ am 3. April 2019 Christoph Heusgen, der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, im Sitzungssaal des Sicherheitsrats die Vorhänge öffnen. Die deutsche Botschaft bei den Vereinten Nationen twitterte: „Sonnenschein ☀ bei der heutigen Debatte im #UNSC – ein seltenes Ereignis in seiner 75-jährigen Geschichte. Transparenz und Offenheit für die breite Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaften sind nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch wichtig für Glaubwürdigkeit und Legitimation“ (twitter 2019). Außerdem haben Frankreich und Deutschland beschlossen, ihre aufeinanderfolgenden Präsidentschaften zu koordinieren und damit ihr gemeinsames Bekenntnis zum Multilateralismus und zu den europäischen Werten zu demonstrieren. Jeweils für sich allein würden diese Gesten wohl auf nicht viel hinauslaufen. Doch als Begleitung der Beinarbeit Deutschlands im letzten Jahr sowohl auf der Makro- als auch auf Handlungsebene kann das Versprechen von mehr Transparenz und besserer Koordination als Sahnehäubchen auf dem Kuchen gelten.

    2. Herausforderungen und Grenzen

    In einer Zeit, in der der Multilateralismus dringend Verfechter braucht, tritt Deutschland (gemeinsam mit Frankreich und anderen) als energischer Fürsprecher und Verteidiger der globalen Zusammenarbeit hervor. Doch trotz all der guten Absichten, von denen die deutsche Außenpolitik angetrieben wird, steht Deutschland vor mehreren Herausforderungen.

    Wahr ist zum einen – insofern Taten mehr zählen als Worte –, dass Deutschlands Taten seit Ende des Zweiten Weltkriegs gezeigt haben, dass seine Führung die Interessen und die Identität des Landes sehr eng mit dessen Mitgliedschaft in multilateralen Institutionen verbindet. Aber was das für die deutsche Wählerschaft tatsächlich bedeutet, ist zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht ganz klar. Eine Umfrage der Körber-Stiftung im letzten Jahr ergab, dass 67 Prozent der Deutschen nicht wussten, was Multilateralismus bedeutet. Fünfzig Prozent gaben an, dass sie mit diesem Wort nichts assoziieren, und 42 Prozent sagten, sie hätten diesen Begriff noch nie gehört (Körber-Stiftung 2019).

    Wenn diese Umfrage wirklich die Meinungen in der deutschen Bevölkerung widerspiegelt, dann sollten uns diese Ergebnisse beunruhigen. Die deutsche Außenpolitik scheint auf einem Prinzip zu gründen, das von der eigenen Bevölkerung nicht verstanden wird. Klärt man die Befragten über die Bedeutung des Begriffs auf, dann „zeigen sich die Deutschen jedoch als große Unterstützer multilateralen Handelns“ (Körber-Stiftung 2019: 6). Das Aufreibende in diesem Zusammenhang ist, dass diejenigen, die von Populisten gern als „globale Elite“ bezeichnet werden, es nicht schaffen, zu erklären, wofür der Multilateralismus steht. Obwohl sich die eigene Bevölkerung mehrheitlich für Globalisierung und internationale Zusammenarbeit ausspricht, sieht es so aus, als hätten Amtspersonen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Angehörige von Thinktanks und andere nicht besonders gut dargelegt, warum multilaterale Institutionen und Regeln notwendig sind, um die Globalisierung und internationale Zusammenarbeit in Gang zu halten. Es liegt auf der Hand, dass das Engagement auf allen Ebenen der deutschen Gesellschaft verbessert und verstärkt werden muss, um wenigstens das Konzept besser zu verdeutlichen und möglichst auch, um die Bedenken einer kleinen, aber lautstarken Minderheit (von den rechten und linken Rändern, aber manchmal auch aus der politischen Mitte einschließlich der Grünen) anzusprechen und mit einzubeziehen. Wenn Deutschland mit seinem Versuch, den Multilateralismus zu verteidigen, zu retten und zu reformieren, Erfolg haben soll, dann geht das sinnvoll nur, wenn die eigene Wählerschaft in voller Überzeugung dahintersteht.

    Zum andern ist auch nach außen hin nicht klar, wofür die Allianz für Multilateralismus steht und wer die Voraussetzungen erfüllt, um in die Gruppe aufgenommen zu werden. Im Streben nach Inklusion neigt man bislang dazu, die Allianz als loses Netzwerk zu betrachten, in dem Staaten für spezifische Problembereiche und Anliegen pragmatisch ihre Kräfte bündeln. Aber diese Strategie, die Verteidigung eines Multilateralismus à la carte, geht wohl in die falsche Richtung.

    Ein flexibles und pragmatisches Netzwerk von Ländern, das selektiv den Anspruch erhebt, für den Multilateralismus per se zu stehen, hilft überhaupt nicht weiter. Denn es ist legitim, wenn Staaten mit divergierenden Interessen und gegensätzlichen Auffassungen darüber, wie die Regeln funktionieren sollten, geltend machen, dass sie den Multilateralismus in irgendeiner Form verteidigen, und dies auch tatsächlich tun. So präsentierte sich beispielsweise China auf dem Weltwirtschaftsforum 2017 als Hüter des multilateralen Welthandelssystems – zu einem Zeitpunkt, als die USA bereits deutlich gemacht hatten, dass sie es gern der Abrissbirne anheimfallen lassen würden; erst jetzt zeigt sich, dass Chinas Auffassung davon, wie das System funktionieren sollte, eine ganz andere ist als die seiner vielen Partner in der westlichen (und auch in der südlichen) Welt (Bradsher 2020). Doch weder China noch diejenigen, die Chinas Interpretation der Regeln (z. B. im Rahmen der WTO) anfechten, sind im Unrecht, denn der Multilateralismus ist ein Instrument der internationalen Zusammenarbeit – nicht mehr und nicht weniger. Es liegt an uns, zu entscheiden, welche Inhalte – welche zugrundeliegenden Werte – diese multilateralen Instrumente wahren und welche Ziele sie verfolgen sollen. Einfach nur Staaten, deren gesellschaftliche und politische Ziele sich in Wirklichkeit grundlegend unterscheiden – Stichworte Liberalismus und Pluralismus versus Autoritarismus oder freie Märkte versus staatlich kontrollierte Unternehmen – in einer Allianz für den Multilateralismus zusammenzufassen, wird nicht dazu beitragen, die derzeitige Krise des Multilateralismus zu überwinden.

    Genauso wichtig wie die Schlüsselfrage nach den Werten sind für die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, auch die Narrative. Ein Narrativ ist „eine einfache Geschichte oder eine einfach formulierte Erklärung von Ereignissen, auf die in Gesprächen, in Nachrichten oder sozialen Netzwerken häufig rekurriert wird, weil damit die Sorgen oder Emotionen anderer Menschen angeregt werden können und /oder weil sie dem Eigeninteresse entgegenkommt“ (Shiller 2017; Kursivierung zur Hervorhebung). Und bislang haben weder Deutschland noch Frankreich noch irgendein anderer Akteur der Allianz für Multilateralismus ein überzeugendes Narrativ dafür gefunden, warum wir uns darum bemühen sollten, den Fortbestand des Multilateralismus zu sichern. Macron war gegen Trumps Refrain Make America Great Again mit seiner eigenen Botschaft Make the Planet Great Again aufgetreten. Ein gut gemeintes, aber leider recht ungeschliffenes und zweckloses Angebot (Germis 2018), über das Deutschland hinaus geht, und auch dies gereicht zur Ehre. Maas zum Beispiel hat sich bedachtsam ausgedrückt, als er sagte: „Wer sein Land liebt, der setzt auf Zusammenarbeit. Denn nur so haben wir alle eine Zukunft“ (Maas 2019). Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch der ist nicht ohne Probleme.

    Erstens ist dieses Narrativ (wie die meisten liberalen Narrative) kompliziert, anders als die simplen Wir-gegen-die-andern-Geschichten, die Trump, die Brexit-Befürworter und die AFD ihrer Klientel anbieten. Zweitens ist der Blick auf die Zukunft gut und schön für diejenigen, denen es vergleichsweise gut geht. Aber für die wirklich benachteiligten Mitglieder unserer zunehmend ungleichen Gesellschaften ist Zukunftssicherung ein Luxus, den sie sich wegen der extremen Härten ihrer Existenz in der Gegenwart nicht leisten können. Drittens ist das derzeitige Narrativ zugunsten des Multilateralismus, obschon von den besten Absichten getragen, auch deshalb nicht überzeugend, weil es gewissermaßen tautologisch ist. Ein Narrativ, das uns auffordert, den Multilateralismus zu unterstützen, weil Zusammenarbeit an und für sich etwas Gutes ist, klingt einfach nicht glaubhaft, besonders nicht in einer Zeit, in der uns andere Narrative lauter und einfacher vermitteln, dass bestimmte Gruppen und Länder durch die internationale Zusammenarbeit in hohem Maße verlieren. Und ohne ein attraktives Narrativ im Hintergrund stehen wir im Kampf um die Fortführung des Multilateralismus auf verlorenem Posten.

    Und schließlich steht Deutschland mit seiner bisherigen, durch die rosarote Brille gewonnenen Ansicht, die (durch multilaterale Institutionen moderierte) wirtschaftliche Verflechtung werde automatisch zu einer Friedensdividende führen, angesichts der neuesten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geoökonomie und insbesondere der Instrumentalisierung von „Interdependenz als Waffe“ vor neuen Herausforderungen (Farrell und Newman 2019). Setzt man diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Kontext von Chinas atemberaubendem Aufstieg und seiner umstrittenen Expansionspolitik in Südostasien (und darüber hinaus), dann wird deutlich, dass die Prämissen der multilateralen Nachkriegsordnung nicht ohne Grund infrage gestellt werden. Wenn multilaterale Regeln, die die wirtschaftliche Verflechtung fördern sollen, von „Systemrivalen“ benutzt werden, um sich einen geoökonomischen Vorteil zu verschaffen, dann müssen die Regeln selbst grundlegend neu gestaltet werden. Jeder Versuch, die Sicherheitsrisiken eines nicht reformierten Multilateralismus unter den Teppich zu kehren, wird nur die von der Trump-Regierung (nicht immer zu Unrecht) bereits angeheizten Gegenreaktionen weiter befeuern. Wenn Deutschland diese Gefahren nicht anerkennt – und sei es nur, weil es dem inklusiven Multilateralismus maximale Unterstützung angedeihen lassen möchte –, dann wird dieser Schuss wahrscheinlich nach hinten losgehen.

    3. Was als Nächstes geschehen muss

    Deutschland hat noch fast ein Jahr im UN-Sicherheitsrat vor sich. Wenn es auf den Anstrengungen aufbaut, die es bereits unternommen hat, um die Multilateralismusdebatte voranzubringen, dann kann es auf jeden Fall noch mehr erreichen. Dazu sind mindestens drei Schritte notwendig.

    Erstens muss Deutschland mit seiner eigenen Wählerschaft und seinen Verbündeten in eine ernsthafte Diskussion über die Werte eintreten, die den Multilateralismus stärken sollten. Durch enge Auslegung dieser Frage haben Länder wie Deutschland und Kanada diese zuweilen in die Richtung von Arbeits- und Umweltstandards geführt. Aber dies greift zu kurz. Im gegenwärtigen großen Machtkampf zeichnen sich dramatische Verwerfungen über erstrangige Werte ab, z.B. Demokratie, Pluralismus, einen eingebetteten Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit und so weiter. Die Zeit kommt, da Deutschland eine klare Linie aufzeigen muss, wofür seine Art des Multilateralismus steht, welche Ziele damit verfolgt und welche Normen dabei gewahrt werden sollen. Das bedeutet dann auch, dass die Allianz für Multilateralismus ihre Identität – und auch ihre Grenzen – schärfen muss.

    Zweitens muss für den Multilateralismus ein attraktives Narrativ entwickelt werden. Ein solches Narrativ müsste den direkten Nutzen aufzeigen, den ein reformierter Multilateralismus den Menschen zu bieten hat – und zwar nicht erst morgen, sondern auch heute schon. Es müsste sowohl auf Individuen als auch auf Gruppen ansprechend wirken. Und es müsste auf verschiedenen Politikebenen – lokal, regional, gesamtstaatlich und weltweit – funktionieren, grenzüberschreitend in der Allianz für Multilateralismus, aber auch innerhalb der jeweiligen Bevölkerung verbündeter Staaten.

    Drittens kann sich Deutschland bezüglich der Gefahr, dass die Interdependenz, für die es sich so energisch eingesetzt hat, von strategischen Konkurrenten zur Waffe umfunktioniert wird, keine Naivität mehr leisten. Die multilateralen Institutionen bedürfen einer grundlegenden Reform. An dieser Front wäre Deutschland – auch für die eigene Sache – gut beraten, sich mit den Staaten des globalen Südens zusammenzuschließen, die bereits an einer Reformagenda (zum Beispiel des UNSC) arbeiten. Außerdem müssen angesichts der Gefahren, die heutzutage aus der Instrumentalisierung der Interdependenz als Waffe und aus wirtschaftlicher Machtausübung in den internationalen Beziehungen erwachsen, multilaterale Regeln überarbeitet werden, um deren Zweckentfremdung und missbräuchliche Ausnutzung zu verhindern. Ein reformiertes System mag noch in der Lage sein, China einzubinden. Aber, offen gesagt, es ist schwer erkennbar, wie wir zu einem voll entfalteten Multilateralismus – universell und mit weitreichenden Ambitionen – zurückkehren könnten, wenn es keine klaren Anzeichen dafür gibt, dass unsere direkten Konkurrenten ebenfalls bereit sind, ihre eigene Machtausübung im Zaum zu halten. Soweit diese Besorgnis in den verschiedenen Weltregionen geteilt wird, wird es ausschlaggebend sein, dass Deutschland eng mit europäischen Partnern, Indien, Japan und anderen zusammenarbeitet. Partner der Allianz für Multilateralismus auf der Grundlage gemeinsamer erstrangiger Werte zu identifizieren, würde dazu beitragen, die Diskussion über Multilateralismus und auch seine Praxis mit mehr Bedeutung auszustatten.


    Fußnoten


      Literatur


      Forschungsschwerpunkte

      Wie man diesen Artikel zitiert

      Amrita Narlikar (2020), Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: Multilateralismus reformieren, GIGA Focus Global, 2, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-66810-6


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