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Aus dem Takt geraten: Rätsel um die Beijinger Parteispitze

Von York Frerks und Heike Holbig


  • Beijings Charmeoffensive 

    In diesen Tagen geben sich in Beijing ausländische Regierungsvertreter:innen die Klinke in die Hand. Nach hochrangigen Vertreter:innen der USA, Japan und den Philippinen trifft heute Bundeskanzler Olaf Scholz mit Chinas parteistaatlicher Führung zusammen, im Mai folgt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Durch eine sorgfältig inszenierte Charmeoffensive versucht Beijing, dem Trend von De-Risking und Diversifizierung entgegenzuwirken. Auf die Verlagerung ausländischer Investitionen in Nachbarländer reagiert die chinesische Führung mit dem Slogan „Das nächste China ist immer noch China“ – eine selbstbewusste Anspielung darauf, dass aufstrebende Länder wie Indien, Vietnam und Indonesien gerne als „das nächste China“ gehandelt werden.  

    Auf der Agenda westlicher Politiker:innen hingegen stehen vor allem ein fairer Marktzugang bei verringerter Abhängigkeit von der chinesischen Wirtschaft und eine Verständigung über Chinas Verhältnis zu Russland. Alles in allem ergibt sich eine schwierige Gemengelage, die gerade Europäer:innen eine diplomatische Gratwanderung zwischen wirtschaftlicher Kooperation, technologischem Wettbewerb und (geo-)politischer Rivalität abverlangt.  

    Während dieser Gespräche mit der chinesischen Regierung wird allerdings oft übersehen, dass sich die kommunistische Parteizentrale, und damit die eigentliche Schaltzentrale der Macht, in einem eigentümlichen Schwebezustand befindet. Wer Staatspräsident Xi Jinping die Hand schüttelt, sollte sich daran erinnern, dass ihm damit zugleich als Generalsekretär der KPCh und als oberstem Militär die Reverenz erwiesen wird. Die Partei selbst aber, aus deren Führung sich Xis höchste Autorität speist, ist seit einem halben Jahr massiv aus dem Takt geraten. Damit stellt sich die Frage, wie entscheidungsfähig und einig man sich in Zhongnanhai über die weiteren wirtschafts-, sicherheits- und geopolitischen Strategien ist. 

    Gewollte Signale kontinuierlicher Regierungsarbeit … 

    Auf Seiten der chinesischen Regierung wird Normalität und Kontinuität vermittelt. Im Arbeitsbericht von Premierminister Li Qiang auf der Sitzung des Nationalen Volkskongresses im März dieses Jahres gab es kaum neue inhaltliche Akzente. Die gesteckten Wirtschaftsziele und Haushaltszahlen entsprachen den Erwartungen. Bestehende Trends werden mit der rhetorischen Beschwörung digitaler und technologischer Innovationskraft in Gestalt von „Produktivkräften einer neuen Qualität“ fortgesetzt. Das zeigen auch Formulierungen zur Wiedervereinigung mit Taiwan, zur Assimilierung von Minderheiten oder zur „gleichberechtigten und geordneten Multipolarisierung der Welt“.  

    Auch wurden alle enttäuscht, die sich von der Sitzung, wie sonst üblich, wichtige Personalentscheidungen erhofft hatten. Insbesondere wurde keine reguläre Nachfolge für Außenminister Qin Gang benannt, der im Sommer 2023 wegen Spionagevorwürfen geschasst worden war. Stattdessen springt hier weiterhin der ehemalige Außenminister Wang Yi ein, der seit dem Herbst 2022 zum Leiter der Internationalen Abteilung der Parteizentrale aufgestiegen ist und damit ohnehin das Sagen in auswärtigen Angelegenheiten hat. 

    … und die ungewollten Signale aus der Parteizentrale 

    Auf der Seite der Parteizentrale hingegen ist von Normalität und Kontinuität nichts zu spüren. Vielmehr sind hier institutionelle Routinen und Gewissheiten seit längerem außer Kraft gesetzt, mit lähmenden Folgen für den gesamten Staatsapparat. So hätte bereits im Herbst 2023 das Dritte Plenum des Zentralkomitees der KPCh stattfinden sollen. Das rund 200-köpfige Gremium hat sich seit den 1990er Jahren – mit einer Ausnahme im Jahr 2018 – an einen regelmäßigen Zeitplan gehalten. Gemäß diesem Zeitplan hätte das Dritte Plenum im Herbst 2023 und damit ein Jahr nach dem großen 20. Parteitag vom Oktober 2022 die personellen und politischen Weichen für die dritte Amtszeit Xi Jinpings stellen sollen. Stattdessen ist dieses wichtige Plenum bislang auf unbestimmte Zeit verschoben worden, mit unabsehbaren Folgen für die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der chinesischen Regierung auf allen administrativen Ebenen. 

    Diese Unterbrechung institutioneller Routinen in der Parteizentrale erklärt nicht nur, weshalb zuletzt trotz der wirtschaftlichen Schieflagen und geopolitischen Herausforderungen neue politische Akzente ausgeblieben sind. Es erklärt auch, warum die Pressekonferenz des Premierministers, die traditionsgemäß zum Ende der jährlichen Volkskongress-Sitzungen anberaumt wurde, in diesem März kurzerhand abgesagt wurde. Auch für die Folgejahre ist nicht mehr vorgesehen, dass sich Li Qiang den Fragen in- und ausländischer Journalist:innen stellt und sich womöglich mit unabgestimmten Aussagen aus der Deckung wagt.  

    Paralyse oder überbordende Macht der Parteispitze? 

    Das anhaltende Schweigen im Walde von Zhongnanhai kann auf unterschiedliche Weise gedeutet werden. Der einfachste, aber sicherlich nicht einzige Grund könnte sein, dass Xi Jinping sich bewusst im Hintergrund hält, solange die schwierige Wirtschaftslage anhält, und die Verantwortung dafür seinem Premierminister überlässt. Ähnliches war etwa in den ersten Wochen des Jahres 2020 zu beobachten, als Xi Jinping die Zügel der COVID-19-Bekämpfung an die Vizeministerpräsidentin Sun Chunlan übergab, die unter anderem den ersten Lockdown in Wuhan orchestrierte. Erst als das Infektionsgeschehen abflaute, trat Xi Jinping als Held im Kampf gegen das Virus wieder in das politische Rampenlicht. 

    Eine weitere Interpretation, die von ausländischen China-Analyst:innen oft gewählt wird, ist die eines Machtkampfes hinter den Kulissen. So wird auch diesmal gemutmaßt, dass in der Parteizentrale ein erbitterter Konflikt zwischen Anhängern und Widersachern Xi Jinpings tobt. Demnach steht Xi unter Druck seitens einer Reihe von Parteiveteranen, die ihm die Verantwortung für die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme geben, allen voran im Immobilien-, Finanz- und Technologiesektor. Eine Paralyse der Führungsspitze und eine allgemeine politische Orientierungslosigkeit seien die Folgen dieses anhaltenden Konflikts in der Machtelite.   

    Denkbar ist drittens aber auch eine konträre Deutung, die davon ausgeht, dass Xi Jinpings Autorität inzwischen so gefestigt und unanfechtbar ist, dass er sich über eingespielte institutionelle Regeln und Routinen schlicht hinwegsetzen kann. Als Vorsitzender zahlreicher zentraler Parteikommissionen mit ressortübergreifenden Leitungskompetenzen, wie etwa der Kommission zur Umfassenden Vertiefung der Reformen, der Finanz- und Wirtschaftskommission und der Nationalen Sicherheitskommission, hält er alle Zügel in der Hand, um die Geschicke des Landes zu lenken. Dem langwierigen und vielschichtigen Konsultationsprozess hingegen, wie er den Plenartagungen des Zentralkomitees der Partei üblicherweise vorausgeht, kann er damit entgehen.  

    Unklar ist, wie diese verschiedenen Deutungen zu gewichten sind. Gleich aber, ob Xi Jinping zuhause unter Druck steht oder sich freigeschwommen hat – in jedem Fall ist der Aufschub des Dritten Plenums kein gutes Zeichen für die Konsensbildung innerhalb der politischen Elite. Auch wenn die offizielle Charmeoffensive Stabilität und Kontinuität vermitteln mag, bestehen doch Zweifel an der Klarheit und Kohärenz der politischen Stoßrichtung der Parteispitze. Wie die meisten ihrer chinesischen Gesprächspartner:innen dürften auch ausländische Akteure noch eine Weile im Ungewissen über die zukünftige Entwicklung Chinas bleiben. 

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