GIGA Focus Lateinamerika

Lateinamerika – Multilateralismus ohne liberale Werte

Nummer 7 | 2019 | ISSN: 1862-3573


  • OAS-Delegiertensitze
    © Reuters / Yuri Gripas
    OAS-Delegiertensitze
    © Reuters / Yuri Gripas

    Lateinamerika und die Karibik gelten als natürliche Verbündete der deutschen Außenpolitik, wenn es darum geht, den liberalen Multilateralismus zu stärken. Eine Analyse regionaler Zusammenarbeit in der Region zeigt allerdings ein ambivalentes Bild. Insbesondere bei den Kernelementen des liberalen Wertekanons wie Demokratie und Menschenrechte folgen die lateinamerikanischen Regierungen überwiegend den politischen Eigeninteressen.

    • Das erfolgreichste Element des lateinamerikanischen Multilateralismus ist die zwischenstaatliche Streitbeilegung, die seit dem Jahr 1948 im Pakt von Bogotá institutionalisiert ist. In akuten Krisen ersetzen Ad-hoc-Institutionen jedoch etablierte multilaterale Mechanismen. Ideologische Nähe ist wichtiger als Werte und Normen.

    • Kernelemente des liberalen Multilateralismus sind Demokratie und Menschenrechte. Hier haben die lateinamerikanischen Länder nicht nur die meisten internationalen Verträge unterschrieben, sondern diese Werte auch im Interamerikanischen System verankert. In der Praxis erweist sich die Umsetzung allerdings als schwierig.

    • Die Krise in Venezuela zeigt die Ambivalenz multilateraler Kooperation an der Schnittstelle zwischen regionaler Stabilität und politischen Eigeninteressen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verurteilte den zunehmenden Autoritarismus schon früh, scheiterte mit Sanktionen allerdings an der Polarisierung entlang ideologischer und parteipolitischer Spaltungen. Die UNASUR (Unión de Naciones Suramericanas) zerbrach an der Krise.

    Fazit

    Verlässliche Partnerschaft im liberalen Multilateralismus hängt sowohl in Lateinamerika und der Karibik als auch anderswo davon ab, dass Demokratie und Menschenrechte in den Ländern selbst geschützt und umgesetzt sind. Lippenbekenntnisse reichen hier nicht aus. Dies sollte im Vordergrund der deutschen und europäischen Außenpolitik stehen. Nur wenn die Maßstäbe zwischen Innen- und Außenpolitik im Gleichklang stehen, entstehen stabile Partnerschaften.

    Deutschland sucht Partner

    Mit der Wahl von Donald Trump und dem Brexit erreichte die Krise des liberalen Multilateralismus den Kern deutscher Außenpolitik. Auf der Suche nach Partnern für multilaterale Zusammenarbeit lud Bundesaußenminister Heiko Maas seine Kollegen aus Lateinamerika und der Karibik im Mai 2019 zu einer Konferenz nach Berlin ein. Die Länder der Region seien „natürliche Verbündete“ in der Stärkung des Multilateralismus, die mit Deutschland darin übereinstimmten, „dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und fairer, freier Handel der einzig richtige Weg“ seien (Auswärtiges Amt 2019).

    Der Verweis auf die Werte- und Interessengemeinschaft zwischen Deutschland bzw. der EU sowie Lateinamerika und der Karibik ist nicht neu, sondern insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges und der Demokratisierung Lateinamerikas ein wiederkehrendes Mantra (Auswärtiges Amt 2010). Allerdings setzen sich nicht erst mit der Wahl von Jair Bolsonaro Ende des Jahres 2018 auch in Lateinamerika verstärkt nationalistische Regierungen durch, die an liberaler Kooperation wenig interessiert sind (Flemes 2018). Gleichzeitig brechen sich aktuell in der gesamten Region grundsätzliche strukturelle Probleme Bahn, die zeigen, wie fragil der vermeintliche Konsens in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ist. Eine Analyse multilateraler Zusammenarbeit in und mit der Region bei diesen Themen zeigt deshalb ein eher ambivalentes Bild. Erfolgreich war die multilaterale Kooperation in und mit Lateinamerika im Bereich der klassischen Sicherheitspolitik zur Verhinderung zwischenstaatlicher Gewaltkonflikte. Bei den Kernelementen des liberalen Wertekanons, die sich stärker auf innerstaatliche Entwicklungen beziehen, halten die Regierungen entweder das Prinzip der nationalen Souveränität hoch oder folgen politischen Eigeninteressen. Die Krise im Umgang mit Venezuela in den vergangenen Jahren zeigt die Herausforderungen und Ambivalenzen multilateraler Kooperation in und mit Lateinamerika sehr deutlich.

    Zone des Friedens – in zwischenstaatlichen Beziehungen

    Im Januar 2014 erklärte die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños, CELAC) Lateinamerika und die Karibik zur „Friedenszone“. Die Regierungschefs betonten die Achtung des Völkerrechts, die friedliche Beilegung von Streitigkeiten, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, die Nichtverbreitung von Atomwaffen und die Förderung einer Kultur des Friedens.

    In der Tat blickt die Region seit der Unabhängigkeit vor 200 Jahren auf eine lange regionale Kooperation zurück. Schon im Jahr 1826 entstand mit dem Kongress von Panama ein System der Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen iberischen Kolonien, das seit der ersten Interamerikanischen Konferenz im Jahr 1889 auch die USA einbezog. Bei der neunten Interamerikanischen Konferenz im Jahr 1948 gründeten die Staaten als Regionalorganisation im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Der Pakt von Bogotá sieht umfassende Mechanismen der friedlichen Konfliktlösung vor, soll die Anwendung von Gewalt verhindern und regeln, wann der Internationale Gerichtshof oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angerufen wird.

    Lange Zeit ersetzten für spezifische Konfliktfälle eigens gegründete Ad-hoc-Me­cha­nismen den Pakt. Ein Beispiel ist die Mitte der 1980er-Jahre gegründete Contadora-Gruppe. Aufgrund der ideologischen Polarisierung war die OAS blockiert, als die internationalisierten Kriege in Zentralamerika zu eskalieren drohten. Die Regierungen der Anrainerstaaten Mexiko, Kolumbien, Panama und Venezuela vermittelten und legten den Grundstein für das regionale Friedensabkommen von Esquipulas. Auch andere bilaterale Konflikte – etwa zwischen Argentinien und Chile – konnten durch die Vermittlung unterschiedlicher Akteure entschärft werden (Flemes und Radseck 2009). In den vergangenen Jahren gab es eine Reihe von Schiedssprüchen des Internationalen Gerichtshofes zu alten Grenzstreitigkeiten. Die Regierungen von Chile und Peru nahmen den Schiedsspruch zum Verlauf der Seegrenze im Jahr 2014 an (Wehner 2014), die Regierung Kolumbiens dagegen verließ den Pakt von Bogotá nach einem Schiedsspruch zur Seegrenze in der Karibik zugunsten Nicaraguas (Urueña 2013).

    Insgesamt gilt die multilaterale Kooperation zur Deeskalation und Regelung zwischenstaatlicher Konflikte als überwiegend erfolgreich. Dies mag auch daran liegen, dass die lateinamerikanischen Staaten historisch und kulturell sehr ähnliche Strukturen aufweisen und die Kontrolle der Grenzregionen immer nur dann interessant war, wenn es um die Kontrolle und Inwertsetzung wertvoller Rohstoffe ging. Ob die vergleichsweise friedliche zwischenstaatliche Praxis mit den bestehenden Mechanismen der Konfliktbearbeitung zusammenhängt oder aber eher mit einer geringen Konfliktivität der zwischenstaatlichen Beziehungen oder einer befriedenden Dominanz der USA (Pax Americana) bleibt letztlich umstritten (Kacowicz und Mares 2016; Mares 2012).

    Der Schutz der Demokratie

    Zum Schutz und zur Umsetzung zentraler liberaler Werte – Demokratie, Menschenrechte, Rechenschaftspflicht – hat Lateinamerika insbesondere im Kontext der OAS umfassende Verträge geschlossen. Lateinamerikanische Länder sind ein zentraler Bestandteil der dritten Demokratisierungswelle, die Mitte der 1970er-Jahre in Südeuropa mit Portugal, Spanien und Griechenland begann. Mainwaring und Bizzarro (2019) identifizieren bis zum Jahr 2017 91 Fälle von Demokratisierung, darunter 18 aus Lateinamerika und der Karibik. Im Gegensatz zu anderen Regionen sind hier nur vier Zusammenbrüche zu konstatieren (Dominikanische Republik 1990, Peru 1992, Nicaragua 2000 und Honduras 2010). Eine Erosion demokratischer Fortschritte stellen die Autoren in Ecuador, Stagnation in Argentinien, Bolivien, Kolumbien, der Dominkanischen Republik (nach der neuerlichen Demokratisierung 1996) und in Panama fest. Die übrigen acht Länder (Brasilien, Chile, El Salvador, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Peru und Uruguay) verzeichnen dagegen Fortschritte, allerdings ausgehend von sehr geringen Anfangswerten. Damit schneidet Lateinamerika weit erfolgreicher ab als andere Regionen. Venezuela bleibt bei dieser Betrachtung außen vor, weil das Land schon vor der dritten Demokratisierungswelle demokratisch war.

    Am 11. September 2001 unterzeichneten die 34 Mitgliedsstaaten der OAS auf ihrer Sondersitzung in Lima (Peru) die Interamerikanische Demokratie Charta (OAS 2001). Bereits im Jahr 1985 hatte die OAS in Cartagena de las Indias ein Protokoll verabschiedet, das die Demokratie als unabdinglich für „Stabilität, Frieden und Entwicklung“ erklärte. In der Charta wurde nun das Recht der Menschen auf und eine Verpflichtung der Regierungen zur Demokratie verankert. Die Charta bezieht sich dabei explizit auf die repräsentative Demokratie. Gemäß Artikel 3 sind der Respekt für Menschenrechte und grundlegende Freiheiten, der Zugang und die Ausübung von Macht auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit, die Abhaltung von regelmäßigen, freien, fairen, geheimen und allgemeinen Wahlen sowie ein pluralistisches System politischer Parteien und Organisationen sowie die Gewaltenteilung zentrale Bestandteile.

    Die Charta wurde seither gegenüber zwei Ländern angewandt. Zum ersten Mal im Jahr 2002 beim Putsch gegen Hugo Chávez. Der war allerdings nach drei Tagen bereits zurück im Amt, sodass die OAS keinerlei Aktivitäten unternehmen musste. Die Anerkennung der „Übergangsregierung“ durch die US-Regierung von George W. Bush zeigt allerdings, dass alte Freund-Feind-Muster nach wie vor vorherrschend waren. Seit dem Jahr 2016 unternahm OAS-Generalsekretär Luis Almagro mehrere Versuche, den wachsenden Autoritarismus der Regierung Maduro (seit 2013) zu sanktionieren. Dies scheiterte lange an der Unterstützung Maduros durch Nicaragua, Bolivien und zahlreiche karibische Staaten, die von Venezuela im Rahmen von PetroCaribe Vorzugskonditionen beim Ölimport erhielten. Als im Jahr 2017 schließlich eine Mehrheit für die Einleitung von Sanktionen zustande kam, erklärte die venezolanische Regierung ihren Austritt aus der OAS, der dann im Mai 2019 wirksam geworden wäre. 

    Eine zweite Anwendung der Sanktionsmechanismen war der Putsch gegen den honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya im Jahr 2009. Die präventiven Bemühungen der OAS, die innenpolitische Krise zu entschärfen, scheiterten. Am 28. Juni 2009 holten Militärs den Präsidenten mitten in der Nacht aus dem Bett und setzten ihn in ein Flugzeug nach Costa Rica. Die OAS reagierte sofort mit der schärfsten Sanktion und schloss Honduras aus. Dies blieb allerdings folgenlos, da die Übergangsregierung auf Zeit spielte und die USA schnell aus der Ablehnungsfront ausbrachen. In der Bewertung der folgenden Wahlen im November 2009 war die OAS abermals tief gespalten, im Jahr 2011 wurde Honduras wieder aufgenommen (Legler 2012).

    Letztlich beeinflussen vier Faktoren die Anwendung bestehender regionaler Mechanismen zur Verteidigung der Demokratie (Feldmann, Merke und Stuenkel 2019): Erstens die Tatsache, dass es miteinander im Wettstreit stehende Regeln gibt. Der Sanktionierung von Verstößen steht insbesondere die in der lateinamerikanischen Geschichte stark verwurzelte Ablehnung der Intervention in innere Angelegenheit anderer Staaten entgegen. Ribeiro Hoffmann (2019) weist außerdem zurecht darauf hin, dass es in der Region im Hinblick auf die zentralen Eckpfeiler der Demokratie starke Differenzen zwischen Verfechtern der repräsentativen und der partizipativen Demokratie gibt. Zweitens fehlt den Mechanismen ein geeigneter Hebel, der betroffene Regierungen wirklich zu einem Einlenken zwingen würde. Drittens wird der nach wie vor beträchtliche Einfluss der USA immer wieder kritisch gesehen. Deren Unterstützung für den Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 und ihr Umschwenken zugunsten der Übergangsregierung in Honduras galt hier abermals als Zeichen, dass es nicht um die Durchsetzung von liberalen Werten und Normen gehe, sondern dass diese ein Deckmantel für die Durchsetzung von ökonomischen und geostrategischen US-Interessen seien. Und schließlich verhindern auch die stark an Konsens orientierten Mechanismen robuste und konkrete Aktionen.

    Die Umsetzung grundlegender Menschenrechte

    Ein zweites Element liberalen Multilateralismus besteht im Schutz und der Umsetzung grundlegender Menschenrechte, bei denen Lateinamerika eine Vorreiterrolle einnimmt. Bereits neun Monate vor der Allgemeinen Menschenrechtskonvention am 10. Dezember 1948, verabschiedete die OAS kurz vor ihrer offiziellen Gründung auf der neunten Interamerikanischen Konferenz in Bogotá die „Amerikanische Erklärung zu den Rechten und Pflichten der Menschen“. Lateinamerikas Vorreiterrolle bei der Kodifizierung von Menschenrechten findet erst in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit und Anerkennung (Sikkink 2014). Die Beschäftigung mit Menschenrechten in der Region stand allerdings stets im Schatten von deren fehlender Umsetzung und schwersten Menschenrechtsverletzungen. Einer ersten Phase der Demokratisierung in den 1940er- und 1950er-Jahren folgten dann die Jahrzehnte der Militärdiktaturen und der internen Kriege. Und auch wenn die Kriege weitgehend beendet sind und die Region trotz zahlreicher Probleme immer noch überwiegend formal demokratisch ist, ist sie im internationalen Vergleich die gewalttätigste Region (UNODC 2019).

    Das interamerikanische Menschrechtssystem basiert auf der im Jahr 1969 verabschiedeten und 1978 in Kraft getretenen Interamerikanischen Menschenrechtskonvention. Bereits im Jahr 1959 gründeten die Staaten die Interamerikanische Menschenrechtskommission, deren zentrale Aufgabe darin besteht, regelmäßige Berichte über die Menschenrechtslage in den Mitgliedsstaaten zu verfassen, sowie die beteiligten Regierungen in Menschenrechtsfragen zu beraten. Ein drittes Element ist der im Jahr 1979 gegründete Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte als Organ der Konvention und nicht der OAS. Hier können sowohl Einzelpersonen als auch Staaten gegen Menschenrechtsverletzungen Klage erheben (Medina 1990).

    Diese Instrumente konnten zwar die Verletzung grundlegender Menschenrechte nicht verhindern, spielen aber bei deren Aufarbeitung und Dokumentation eine wichtige Rolle. Mit der Demokratisierung und der Beendigung der internen Kriege hat Lateinamerika außerdem maßgeblich zur Innovation von Menschenrechtsinstrumenten beigetragen. Beispiele hierfür sind die Wahrheitskommissionen in Argentinien und Guatemala sowie aktuell die kolumbianische Sonderjustiz für den Frieden.

    Weder bei der Demokratie noch bei den Menschenrechten besteht das zentrale Problem Lateinamerikas in fehlenden Regeln oder Institutionen. Die fehlende Umsetzung lässt sich vielmehr dadurch erklären, dass die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten die Anwendung dieser Regeln verhindern oder hintertreiben. Dies gilt in erster Linie für den Rechtsstaat, der die Einhaltung demokratischer Regeln und die Gewährleistung von grundlegenden Menschenrechten auf nationaler Ebene durchsetzen muss. Die Umsetzung regionaler Regelungen scheitert vor allem an der verbreiteten Straflosigkeit selbst bei Kapitalverbrechen sowie der Korruption, nicht nur, aber auch in der Justiz. Das Beispiel Venezuela zeigt auf, wie der mangelnde Konsens im Hinblick auf zentrale Kernelemente von Demokratie und Menschenrechten eine regionale Antwort auf die Krise verhindert.

    Das Scheitern lateinamerikanischer Kooperation in Venezuela

    Als Hugo Chávez im Jahr 1998 zum venezolanischen Präsidenten gewählt wurde, zeigten sich die Differenzen in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte, aber auch in der regionalen Kooperation. Von Anfang an propagierte Chávez ein Modell der Demokratie, das die Partizipation in den Vordergrund stellte und die sozialen gegenüber den politischen Menschenrechten privilegierte. In der Praxis führte dies allerdings zur Aushöhlung demokratischer Institutionen und zur Abschaffung der Gewaltenteilung. Während Chávez die meisten in der Regel noch überwiegend freien Wahlen mit großer Mehrheit gewann, geriet sein Nachfolger Nicolás Maduro (seit dem Jahr 2013) aufgrund der sich mehrenden autoritären Tendenzen zunehmend in die Kritik nicht nur der nationalen Opposition, sondern auch regionaler Organisationen. Wegmarken in ein autoritäres System waren insbesondere die Manipulation des Wahlsystems und die Militarisierung des Staatsapparates (Jácome 2018; Legler und Nolte 2019). Auf Basis der Daten des Varieties of Democracy Projektes (V-Dem Institute k.A.) lässt sich allerdings in allen vier Dimensionen der Demokratie ein massiver Rückgang beobachten (Abbildung 1).

    Grafische Darstellung Venezuela: Dimensionen der Demokratie.
    © Eigene Darstellung nach Coppedge et al. 2019.
    Abb. 1 Venezuela: Dimensionen der Demokratie
    Grafische Darstellung Venezuela: Dimensionen der Demokratie.
    © Eigene Darstellung nach Coppedge et al. 2019.
    Abb. 1 Venezuela: Dimensionen der Demokratie

    Die OAS unternahm im Fall Venezuela vergleichsweise früh den Versuch, den weiteren Rückschritt demokratischer Kernelemente zu verhindern. Als im Jahr 2015 die Opposition die überwältigende Mehrheit bei den Wahlen zur Nationalversammlung erhielt, schien ein Wendepunkt möglich. Die Regierung Maduro gab allerdings nicht auf: Sie erkannte den Sieg von zwei Oppositionsabgeordneten nicht an, sodass diese im Parlament nicht über eine Zweidrittelmehrheit verfügten, auf deren Basis sie alle Initiativen der Regierung hätte blockieren können. Den Versuch der Opposition, Maduro mittels eines im Jahr 2004 unter Vermittlung der OAS eingeführten Referendums zur Amtsenthebung des Präsidenten (innerhalb der ersten beiden Amtsjahre) legal aus dem Amt zu bringen, hintertrieb er dadurch, dass er die gesammelten Unterschriften nicht anerkannte. Der schlussendliche Wendepunkt war dann die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung im Jahr 2017, die die Aufgaben des Parlaments übernehmen sollte.

    Danach versuchte die OAS die Demokratieklauseln anzuwenden, was allerdings an der Polarisierung innerhalb der OAS scheiterte. Im April 2017 zog sich die Maduro-Regierung schließlich aus der OAS zurück. Zwölf überwiegend konservative Regierungen gründeten daraufhin, ganz in der Tradition von Ad-hoc-Instrumenten zur regionalen Konfliktbearbeitung, die Lima-Gruppe. Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Paraguay, Guatemala, Honduras, Panama, Peru und Mexiko, aber auch Kanada und Costa Rica nahmen teil. Dagegen schlossen sich weder Uruguay noch Bolivien und Nicaragua der Initiative an. Während Uruguay versuchte, sich als neutraler Mittler zu positionieren, stellten sich Bolivien und Nicaragua offen auf die Seite der Regierung Maduro.

    2017 war das Jahr, in dem die Regierung Maduro mit massiver Repression gegen die auf den Straßen protestierende Opposition vorging. Mittlerweile nahm der Protest nicht mehr „nur“ in den traditionellen Parteien zu, sondern auch in den Teilen der Bevölkerung, die Chávez unterstützt und gewählt hatte. Nach Angaben des Observatorio de la Violencia (Observatorio Venezolano de Violencia 2019) starben im Jahr 2017 5.535 und im Jahr 2018 7.523 Menschen beim Widerstand gegen die staatlichen Sicherheitskräfte.

    Vermittlungsbemühungen durch den ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Zapatero und des Vatikans in der Dominikanischen Republik scheiterten, weil Maduro zu keinerlei Zugeständnissen bereit war und vor allem versuchte, Zeit zu gewinnen. Die rapide sinkende Popularität dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass Maduro die Ende des Jahres 2018 fälligen Präsidentschaftswahlen auf Mai vorzog. Ein Großteil der Opposition boykottierte die Wahlen und erkannte Maduro mit dem Ende seiner Amtszeit am 10. Januar 2019 nicht mehr an. In dieser Situation rief sich Parlamentspräsident Juan Guaido zum Interimspräsidenten aus und forderte im Kontext von neuerlichen Massenprotesten „das Ende der Usurpation und Neuwahlen“.

    Lateinamerika war weiterhin gespalten. Die USA und die meisten konservativen Regierungen Lateinamerikas ebenso wie Kanada und der Großteil der EU, erkannten den Anspruch Guaidos an. Dies war mit der Hoffnung verbunden, dass ein Regimewechsel entweder durch Implosion des Regimes oder einen Seitenwechsel des Militärs schnell möglich sei. Im Raum stand auch die offene Drohung einer Militärintervention unter Führung der USA. Die Tatsache, dass zahlreiche lateinamerikanische Regierungen, in erster Linie Kolumbien und Chile, diese Möglichkeit offen diskutierten, ist ein rhetorischer Bruch gegenüber dem bisher immer hoch gehaltenen Verbot der Intervention in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. In dieser aufgeheizten Lage gründeten einige europäische und lateinamerikanische Regierungen dann die „Internationale Kontaktgruppe“, die zumindest bisher ergebnislos für eine Verhandlungslösung eintrat.

    Der Umgang Lateinamerikas mit der venezolanischen Krise ordnet sich nahtlos in die Probleme multilateraler Kooperation in der Region ein:

    • Kooperation findet statt, um akute zwischenstaatliche Krisen zu entschärfen, wobei in der Regel nicht auf existierende Institutionen, sondern auf neu gegründete Ad-hoc-Mechanismen gesetzt wird.

    • Im Umgang mit Demokratie treffen unterschiedliche, von der ideologischen oder politischen Färbung der jeweiligen Regierung abhängige Konzeptionen aufeinander. Es existiert in der Region jenseits der Abhaltung von Wahlen kein Minimalkonsens, welche Kernelemente unverzichtbar sind. Und Wahlen finden eben auch in autoritären Kontexten statt.

    • Wenden Regierungen Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an, so fällt das auch im 21. Jahrhundert immer noch weitgehend unter das Nichtinterventionsgebot bzw. wird kritisiert, wenn die repressive Regierung dem „anderen“ politischen Lager angehört. Hier hat die Logik des Kalten Krieges überlebt, die in Lateinamerika mit Kuba und dem Chavismus altbekannte Feindbilder bedient.

    Lateinamerika – ein schwieriger Partner

    Der Umgang der Region mit der Krise in Venezuela zeigt, dass die optimistische Annahme, neue Regionalorganisationen wie UNASUR stellten einen Qualitätssprung in der regionalen Kooperation dar, verfrüht war. Die aktuellen Entwicklungen geben eher den Skeptikern Recht, die darauf verweisen, dass die regionale Kooperation vor allem auf interpräsidentieller Zusammenarbeit basiert und traditionelle Formen der Kooperation fortschreibt (Legler 2013).

    Die Krise in und um Venezuela sowie andere Konflikte belegen das sehr ambivalente Verhältnis vieler Regierungen zu nationalen und internationalen Regeln. Hier gilt kein pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden), vielmehr lebt das koloniale Motto se obedece pero no se cumple (Regeln werden formal respektiert, aber nicht wirklich umgesetzt) fort. Als verlässlicher Partner in multilateraler Kooperation ist Lateinamerika vor diesem Hintergrund eher schwierig.

    Das ambivalente Verhältnis gegenüber internationalen Regeln und Verträgen ist allerdings nicht auf Lateinamerika beschränkt. Weniger ideologische Orientierung als der Schutz liberaler Grundwerte wie Demokratie und Menschenrechte ist ein guter Indikator für Werte- und Normenpartnerschaft. Dieser Zusammenhang sollte die europäische und deutsche Außenpolitik viel stärker leiten als geostrategische und wirtschaftliche Interessen. Nur wenn die Maßstäbe zwischen Innen- und Außenpolitik zumindest einigermaßen im Gleichklang stehen, entstehen stabile Partnerschaften.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Lateinamerika

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Forschungsschwerpunkte

      Wie man diesen Artikel zitiert

      Sabine Kurtenbach (2019), Lateinamerika – Multilateralismus ohne liberale Werte, GIGA Focus Lateinamerika, 7, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-65887-1


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