GIGA Focus Asien

Indische Weltordnungspolitik: Viele Partner, keine Allianzen

Nummer 6 | 2016 | ISSN: 1862-359X


  • Zwei Indische Flaggen
    © Reuters / Adnan Abidi
    Zwei Indische Flaggen
    © Reuters / Adnan Abidi

    Als aufstrebender Wirtschaftsmacht und weltgrößter Demokratie wird Indien heute weithin eine Schlüsselrolle in der künftigen Weltordnung zugeschrieben. Die Ordnungsvorstellungen, die Indien in der globalen Politik durchsetzen will, sind jedoch nicht unbedingt deckungsgleich mit den Werten und Interessen des Westens. Indien wird daher vorerst kein natürlicher Partner für die USA und Europa sein.

    • Das Ende des Kalten Krieges war ein Wendepunkt in der indischen Außenpolitik: Die Idee der Blockfreiheit (Non-alignment), die lange Zeit Indiens außenpolitische Identität ausmachte, schien obsolet in einer Welt ohne Machtblöcke.

    • Gleichwohl hat das Land zentrale Bezugspunkte und Ideale seiner Außenpolitik nicht einfach aufgegeben. Es steht vor allem der westlichen Hegemonie in der Weltpolitik oft kritisch gegenüber und will sich daher nicht einfach in die liberal-westliche Weltordnung eingliedern lassen, sondern eine eigene Weltordnungspolitik betreiben.

    • Ein Kernelement bleibt die Bewahrung außen- und sicherheitspolitischer Autonomie. Indien ist stets darauf bedacht, seine Entscheidungshoheit zu wahren und feste Allianzen zu meiden. Daher strebt Indien heute strategische Partnerschaften mit allen relevanten Akteuren in der internationalen Politik an. Gleichzeitig versucht Indien jedoch allzu enge oder einseitige Beziehungen etwa zu den USA zu vermeiden.

    • Indien versteht sich selbst als Brückenmacht in einem zunehmend pluralistischen internationalen System. Es steht zwischen Ost und West, Nord und Süd, der „Ersten“ und der „Dritten“ Welt und hat daher multiple Identitäten und Interessen. Diese erlauben es Indien, über zahlreiche Politiknetzwerke die Weltordnung maßgeblich zu beeinflussen.

    Fazit

    Trotz seiner Demokratie und wirtschaftlichen Öffnung nach Ende des Kalten Krieges ist Indien kein natürlicher Verbündeter des Westens. Als Opfer des westlichen Imperialismus und Schwellenland stehen für Indien Selbstbestimmung und die Überwindung von politischer und ökonomischer Diskriminierung im Zentrum seiner globalen Ordnungsvorstellungen. Westliche Industriestaaten sollten sich darauf vorbereiten, dass Indien in zahlreichen Politikfeldern daher andere Interessen und Wertvorstellungen vertreten wird.

    Weltordnung im Umbruch

    Die Weltordnung befindet sich im Umbruch. Der Aufstieg von Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien verändert das Machtgefüge im internationalen System. Während die USA und Europa relativ an politischem und wirtschaftlichem Einfluss verlieren, treten die Schwellenländer mit neuem Selbstbewusstsein auf der Weltbühne auf und streben danach, das normative und institutionelle Ordnungsgefüge mitzugestalten und zu verändern. Damit könnte sich die Vormachtstellung des „Westens“, vornehmlich der Staaten Nordamerikas und Europas, der die Geschicke der Weltpolitik über mehrere Jahrhunderte maßgeblich bestimmte, dem Ende neigen und eine Weltordnung mit multiplen Machtpolen herausbilden (vgl. Stuenkel 2016).

    Politik und Wissenschaft sind auf diesen Umbruch jedoch nur unzureichend vorbereitet. Zum einen herrschte lange die Überzeugung vor, dass letztlich alle Staaten und Gesellschaften in der Welt dem westlich-liberalen Entwicklungspfad folgen (müssten) und sich eine relativ homogene politische und wirtschaftliche Ordnung in und zwischen den Staaten herausbilden würde. Zum anderen wurde den historischen Erfahrungen, Ideen, Perspektiven und Praktiken der Staaten aus dem „globalen Süden“ bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Narlikar 2016).

    Die aufstrebenden Mächte zeigen bislang wenig Bereitschaft, sich einfach in die existierende globale Ordnung einzugliedern, sondern reklamieren für sich eine aktive Rolle im globalen Wettbewerb um Ideen, Normen und Deutungshoheit und damit bei der Ausgestaltung der Weltordnung. So haben die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) kürzlich eine eigene Entwicklungsbank gegründet, die als Konkurrenzmodell zur westlich dominierten Weltbank fungieren und ihre allgemeine Ablehnung konditionierter Entwicklungs- und Finanzhilfe zum Ausdruck bringen soll. Eine stärkere Auseinandersetzung mit den nationalen Diskursen dieser Staaten und den in ihnen artikulierten Selbstwahrnehmungen sowie Interessen, Werte- und Ordnungsvorstellungen ist daher von entscheidender Bedeutung, um eine friedliche und kooperative Umgestaltung der Weltordnung zu gewährleisten und effektive Partnerschaften mit den aufstrebenden Mächten zu schließen.

    Dies verdeutlicht vor allem der Fall Indien. Obgleich Indien aufgrund eines gemeinsamen Bekenntnisses zu repräsentativer Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Multilateralismus als natürlicher Verbündeter des Westens angesehen wird, haben Entscheidungsträger in den USA und Europa oft Schwierigkeiten, die indische Verhaltens- und Verhandlungsposition zu verstehen und zu antizipieren. Anstatt etwa zusammen mit den westlichen Demokratien die Werte und Regeln der liberalen Weltordnung offen zu verteidigen, hat Indien Bündnisse mit anderen Schwellen- und Entwicklungsländern geschlossen und sich in bestimmen Politikfeldern – z.B. Klima, Welthandel oder nukleare Nichtverbreitung – als Veto-Spieler etabliert, der den westlichen Industriestaaten die Stirn bietet. Dies hat nicht nur für Irritationen in den USA und der Europäischen Union (EU) gesorgt, sondern auch die Ausgestaltung strategischer Partnerschaften mit Indien erschwert. Um Aufschluss über die Motivation und Praxis indischer Außenpolitik zu erlangen, müssen wir verstehen, wie Indien sich selbst und seine Rolle in der Weltordnung definiert.

    Von Non-alignment zu Multi-alignment

    Das Ende des Kalten Krieges war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt in der indischen Außenpolitik: Indien verlor mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion seinen wichtigsten strategischen Partner und rutschte in eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise ab, welche die Grenzen des staatlich gelenkten Entwicklungsmodells aufzeigte. Die Idee der Blockfreiheit (Non-alignment), die lange Zeit Indiens außenpolitische Identität ausmachte, schien obsolet in einer Welt ohne Machtblöcke.

    Hinter der Idee der Blockfreiheit stand Indiens Anspruch, als dritte und unabhängige Kraft in der Weltpolitik aufzutreten, die sich nicht den Dynamiken des Kalten Krieges unterwirft, zusammen mit anderen postkolonialen Staaten für eine gerechtere und friedlichere Welt kämpft und Demokratie erfolgreich mit einem sozialistischen Wirtschaftsmodell kombiniert. Der Kalte Krieg hatte daher – trotz aller Gefahren und Risiken – auch ein identitätsstiftendes Moment für Indien. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat Indien seine spezifische Rolle in der Weltordnung verloren und stürzte in eine Identitätskrise. Indien hatte sich den Globalisierungsprozessen weitgehend entzogen und indische Entscheidungsträger mussten nun mitansehen, wie China, Südkorea und andere Entwicklungsländer, die sich dem Weltmarkt stärker geöffnet hatten, deutlich höheres Wirtschaftswachstum und größere Erfolge in der Armutsbekämpfung erzielten. Indien fühlte sich nicht nur als einer der Verlierer des Kalten Krieges, sondern in einer zunehmend globalisierten Weltwirtschaft und einem von den westlichen Industriestaaten dominierten internationalem System marginalisiert.

    Die indische Außenpolitik in den letzten beiden Jahrzehnten kann als Versuch verstanden werden, die eigene Rolle in der Weltordnung neu zu definieren und an die Herausforderungen sowie Chancen einer globalisierten Welt anzupassen. Im Zuge dieser Umgestaltung der eigenen Außenpolitik hat Indien jedoch zentrale Bezugspunkte und Ideale seiner Außenpolitik nicht einfach aufgegeben, sondern vielmehr modifiziert. So wurde aus Non-alignment – dem Kernelement indischer Außenpolitik seit der Unabhängigkeit – Multi-alignment. Durch diese semantische Verschiebung wird zum Ausdruck gebracht, dass das Hauptziel der Politik der Blockfreiheit immer die Bewahrung der außen- und sicherheitspolitischen Autonomie Indiens gewesen sei und dieses Ziel heute am besten durch eine mehrgleisige Politik erreicht werden könne (vgl. Khilnani et al. 2012; Tharoor 2012).

    Um die strategische Autonomie und Unabhängigkeit der außenpolitischen Entscheidungsfindung zu gewährleisten, strebt Indien mithin politische, wirtschaftliche und strategische Partnerschaften mit allen wichtigen Akteuren in der internationalen Politik an, versucht jedoch allzu enge oder einseitige Beziehungen etwa zu den USA zu vermeiden. Diese würden nicht nur die Unabhängigkeit der indischen Außenpolitik unterminieren, sondern auch die Beziehungen zu anderen wichtigen Akteuren konterkarieren. So formulierte der frühere Nationale Sicherheitsberater Brajesh Mishra in provokanter Weise: „Es ist wichtig, multiple Optionen zu haben und nicht von einer Quelle abhängig zu sein. Indiens Ziel muss es sein, Partnerschaften mit so vielen Staaten wie möglich einzugehen. Promiskuität in den internationalen Beziehungen ist nicht nur statthaft, sondern höchst erstrebenswert. Nur einen Partner zu haben, zeigt Schwäche, nicht Loyalität“ (Mishra 2007).

    Zwar hat Indien infolge der Neuausrichtung seiner Außenpolitik die Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten, vor allem den USA, vertieft und seine Wirtschaft liberalisiert. Aber die außenpolitischen Entscheidungsträger waren im selben Maße darum bemüht, die Beziehungen zu traditionellen Partnern wie etwa Russland und den Mitgliedern der Blockfreienbewegung aufrechtzuerhalten und Indien nicht als Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft zu positionieren. Parallel zu den strategischen Partnerschaften mit den USA und der EU hat Indien auch seine strategischen Beziehungen zu Russland weiter vertieft, das nach wie vor der mit Abstand größte Rüstungslieferant Indiens ist, und strategische Partnerschaften mit anderen aufstrebenden Mächten wie etwa China, Brasilien und Südafrika geschlossen. Gemein ist den BRICS-Staaten die Ablehnung der westlichen Hegemonie im internationalen System und der Wunsch nach einer pluralistischeren Weltordnung. Für die USA, die mit dem im Jahr 2008 geschlossenen Nuklearabkommen Indien de facto als Nuklearmacht anerkannt hat, und andere westliche Industriestaaten wirkt Indiens außenpolitische Flexibilität oftmals befremdlich und scheinheilig. Verbunden ist mit Indiens Wiederannäherung an den Westen und Öffnung zum Weltmarkt doch auch die Erwartung, dass Indien nun ähnliche Werte und Interessen in der globalen Politik vertreten und gemeinsam mit den westlichen Demokratien auf Bedrohungen für die liberale Weltordnung reagieren wird. Diese Erwartung hat Indien bislang nicht erfüllt. So hat Indien die westlichen Bemühungen, das iranische Nuklearprogramm zu stoppen, nur sehr halbherzig unterstützt und Interventionen in Libyen und Syrien abgelehnt, ohne konkrete politische Alternativen vorzubringen. Als Russland im Frühjahr 2014 in die Ukraine einmarschiert ist und die Krim annektiert hat, hat die indische Regierung das russische Vorgehen öffentlich nicht verurteilt; indische Diplomaten haben es vielmehr als Reaktion auf die Expansionsbestrebungen der NATO dargestellt (vgl. The Economic Times 2014; Sibal 2014) . Autonomie und Unabhängigkeit sind nicht einfach Ausdruck eines strategischen Kalküls im außenpolitischen Diskurs, sondern eng verwoben mit der nationalen Identität Indiens. Auch wenn Indien sich gerne als eine der ältesten Zivilisationen der Welt portraitiert und damit eine Jahrtausende währende kulturelle und politische Kontinuität unterstellt, hat sich ein nationales Bewusstsein erst in der Kolonialzeit entwickelt. Es waren vor allem die kollektiv empfundenen Erfahrungen von Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung sowie die Sehnsucht nach Unabhängigkeit, durch die sich graduell ein Gefühl von Gemeinschaft und eine nationale Identität herausgebildet haben. Angesichts der kolonialen Fremdherrschaft und der ethnischen, religiösen, sprachlichen und sozioökonomischen Heterogenität Indiens, die den Aufbau eines Nationalstaates erheblich erschwert, haben Autonomie und Unabhängigkeit daher einen besonderen Stellenwert und sind nationaler Konsens.

    Auch deshalb laufen außen- und sicherheitspolitische Kontroversen in Indien meist auf die Frage hinaus, inwieweit eine bestimmte Entscheidung die Autonomie und Unabhängigkeit Indiens negativ beeinflusst. So hat beispielsweise die Bharatiya Janata Party (BJP), die während der eigenen Regierungszeit (1998-2004) die Beziehungen zu den USA ausgebaut hat, in ihrer Rolle als Oppositionspartei die nachfolgende Kongress-Regierung (2004-2014) für die Fortsetzung dieser Politik wiederholt angegriffen und negative Konsequenzen für Indiens Autonomie und Unabhängigkeit geltend gemacht. Die Bedeutung von Autonomie und Unabhängigkeit in der indischen Staatsräson geht schließlich auch mit der Überzeugung einher, dass eine Politik des Multi-alignments das probateste Mittel sei, um auf die Chancen und Herausforderungen einer zunehmend komplexen und pluralistischen Welt zu reagieren und Indiens Interessen effektiv zu verteidigen.

    Zu einer polyzentrischen Weltordnung?

    Aus Sicht indischer Politiker und Diplomaten erleben wir gegenwärtig die Herausbildung einer polyzentrischen Ordnung im internationalen System. Beschworen wird eine Ordnung, die durch vielschichtige globale Verflechtungen, wechselseitige Abhängigkeiten und Diversität gekennzeichnet ist und mehrere Machtzentren umfasst. In dieser komplexen und interdependenten Welt, wie der indische Kongress-Politiker Shashi Tharoor anmerkt, „koexistieren und kooperieren die mächtigen Staaten nicht in festen Allianzen oder in simplen Freund-/Feind-Beziehungen, sondern durch eine Vielzahl von Netzwerkbeziehungen, einschließlich strategischer Partnerschaften mit einem oder mehreren Partnern, die sich oft überlappen“ (Tharoor 2012: 425).

    Wie die Außenpolitiken anderer Staaten (vgl. Flemes und Ebert 2016) bewegt sich die indische Außenpolitik weg von einem staatenspezifischen Engagement und hin zu themen- und interessenbasierten Partnerschaften in wechselnden Koalitionen und Politiknetzwerken. Zwischenstaatliche Beziehungen zeichnen sich heute durch eine komplexe Mischung aus Wettbewerb und Zusammenarbeit aus. Anstatt mit eindeutigen Feinden oder Alliierten haben Staaten es also mit deutlich komplizierteren Beziehungsverhältnissen zu tun, die es erfordern, eine Balance zwischen Konkurrenz und Kooperation mit einer Vielzahl von Akteuren zu finden. Während zwei Staaten etwa über enge wirtschaftliche Beziehungen verfügen, können sie in politischen oder strategischen Fragen große Differenzen haben.

    So vertritt Indien beispielsweise in der internationalen Handels- und Klimapolitik oft ähnliche Interessen wie China und hat mit der Volksrepublik und anderen aufstrebenden Mächten Politiknetzwerke geformt, um Verhandlungspositionen zu koordinieren und den eigenen Einfluss zu vergrößern. Im Rahmen ihrer im Jahr 2005 geschlossenen strategischen Partnerschaft haben sich Indien und China beispielsweise darauf geeinigt, gemeinsam für ein offenes und faires globales Handelssystem zu kämpfen. Ihr Ziel ist es, die Handelsbarrieren der westlichen Industriestaaten gegenüber konkurrenzfähigen Gütern aus Entwicklungs- und Schwellenländern zu zerschlagen, dabei aber heimische, nicht konkurrenzfähige Wirtschaftszweige möglichst vom Weltmarkt abzuschotten. Das gemeinsame Engagement von Indien und China hat dazu beigetragen, dass keine Fortschritte in der Doha-Runde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels erzielt werden konnten. Indien und China haben sich im Vorfeld der Gipfeltreffen über ihre Verhandlungspositionen ausgetauscht und erfolgreich Widerstand geleistet gegen die Forderung der USA und EU nach einer stärkeren Öffnung des Agrar- und Industriegüterbereichs in Schwellenländern.

    In der Klimapolitik hat Indien zusammen mit Brasilien, Südafrika und China im Jahr 2009 die sogenannte BASIC-Koalition gegründet, um die Verhandlungsposition der Schwellenländer zu verbessern und vor allem die Industriestaaten zur Bekämpfung des Klimawandels in die Pflicht zu nehmen. Beim Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 hat die BASIC-Gruppe zunächst erfolgreich einen Vertragsentwurf der Industriestaaten blockiert und dann in einem informellen Treffen mit der US-Delegation den sogenannten Kopenhagen-Akkord ausgehandelt – das einzige Ergebnis des Klimagipfels.

    Ungeachtet dieser globalen Zusammenarbeit konkurrieren Indien und China in Asien hingegen um Märkte, Energie und Einfluss, und ein ungelöster Grenzkonflikt sorgt regelmäßig für Spannungen. Daher hat Indien eine engere Anbindung an die USA und Japan gesucht, um seinen strategischen Handlungsspielraum gegenüber China zu vergrößern und sich gegen mögliche Aggressionen abzusichern (vgl. Wojczewski 2016). „Indien muss“, wie es der Diplomat Chandrashekhar Dasgupta ausgedrückt hat, „eine mehrgleisige Außenpolitik verfolgen, die darauf ausgerichtet ist, weitestgehend kooperative Beziehungen mit allen Ländern und insbesondere den Großmächten zu kultivieren“, um „maximale Einflussmöglichkeiten auf alle Großmächte zu haben“ (Dasgupta 2010).

    Indischer Exzeptionalismus

    Indische Entscheidungsträger sind der Überzeugung, dass Indien bestens für die Herausforderungen einer polyzentrischen Ordnung gewappnet sei und einen entscheidenden Beitrag für eine gerechtere und friedlichere Weltordnung leisten könne. Dahinter verbirgt sich der Glaube an einen indischen „Exzeptionalismus“ in den internationalen Beziehungen, der Glaube, dass Indien eine besondere Rolle in der Welt zukomme: Indien sei als größtes demokratisches Schwellenland mit seiner ethnischen, religiösen und sprachlichen Vielfalt ein Symbol für friedliche Koexistenz und könne dank seiner multiplen Interessen und Identitäten eine globale Führungsrolle einnehmen. In den Worten des früheren Premierministers Manmohan Singh: „Der Erfolg einer säkularen Demokratie in einer Nation aus einer Milliarde Menschen mit einer derartigen Diversität wird mit Bewunderung beobachtet. […] Indien möchte gute Beziehungen mit allen Ländern der Welt, mit großen und kleinen, mit Ländern des Ostens und des Westens, des Nordens und des Südens. Heute genießen wir gute Beziehungen zu allen Großmächten und allen Entwicklungsländern. Wir sind zu einer Brücke zwischen den Extremen dieser Welt geworden“ (Singh 2007). Als „Brückenmacht“ besitzt Indien demnach einmalige globale Einflussmöglichkeiten, die anderen Staaten wie etwa China und den USA verwehrt bleiben. Es könne gleichermaßen gute Beziehungen mit demokratischen und autoritären Staaten, mit Industrie- ebenso wie mit Schwellen- und Entwicklungsländern unterhalten. Darüber hinaus könne Indien zwischen den Extremen dieser Welt vermitteln und einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer Weltordnung leisten, die trotz dieser Extreme Frieden und Zusammenarbeit bewahrt.

    Diese indozentrische Weltsicht dient nicht nur der Aufwertung von Indiens Status in der globalen Politik, sondern auch der Vergewisserung und Stabilisierung der eigenen fragilen nationalen Identität. Sie projiziert Indiens nationale Erfahrungen und Staatsmodell auf die globale Ordnung und verleiht ihnen eine universelle Bedeutung. Das indische Ideal der „Einheit in Vielfalt“ – der friedlichen Koexistenz in einer sehr heterogenen Gesellschaft – entspricht demnach den Konturen der künftigen Weltordnung. In dieser sind zahlreiche Akteure mit unterschiedlichen Kulturen, politischen Systemen und Traditionen in globale Beziehungsgeflechte eingebunden und stehen vor der Herausforderung, diese Vielfalt und Gegensätzlichkeit friedlich zu regulieren. Indien wird mithin zu einem Abbild der globalisierten, pluralistischen und interdependenten Welt und zeigt den Weg für friedliche Koexistenz auf. Das Ideal der „Einheit in Vielfalt“ ist in Indien selbst jedoch oft mehr Anspruch als Wirklichkeit. Seit Jahrzehnten schwelen beispielsweise zahlreiche ethno-politische, religiöse und soziökonomische Konflikte (vgl. Wojczewski 2015). Diese Konflikte zeigen nicht nur die Bruchlinien der indischen nationalen Identität auf, sondern auch, dass Indien trotz der Errungenschaften seines föderal-demokratischen und säkularen Staatsmodells (noch) weit davon entfernt ist, ein erfolgreiches Symbol für Gewaltlosigkeit, Toleranz und Koexistenz zu sein.

    Nichtdiskriminierung als Weltordnungsprinzip

    Obwohl kein revisionistischer Staat, der die gegenwärtige Weltordnung gänzlich ablehnt, will Indien nicht, wie ein früherer Topdiplomat betont, „einfach in die existierende internationale Ordnung, die vom Westen kontrolliert wird, kooptiert werden. Es muss vielmehr selbst seinen rechtmäßigen Platz finden und eine Position einnehmen, die es erlaubt, Regeln zu ändern anstatt einfach bereits existierenden Regeln zu folgen“ (Sibal 2012). Denn viele dieser Regeln sind aus Sicht indischer Entscheidungsträger zutiefst diskriminierend und dienen dazu, die Hegemonie und Interessen der westlichen Industriestaaten im internationalen System zu bewahren. Im Gegensatz zu den Weltordnungsmodellen westlicher Akteure wird in Indien das Prinzip der Nichtdiskriminierung als ein Eckpfeiler einer gerechten und friedlichen Weltordnung angesehen.

    Hinter dem Prinzip der Nichtdiskriminierung verbirgt sich zum einen eine besondere Sensibilität für Ungleichheit und Ungleichbehandlung in der internationalen Politik. Diese werden etwa in Abkommen oder Institutionen erkannt, welche ungleiche Beziehungen unter ihren Mitgliedern etablieren oder bestimmte Interessen und Akteure an den Rand drängen. Vor allem die Entwicklungsländer hätten zu leiden, wenn beispielsweise die Industriestaaten versuchten, Umwelt- und Arbeitsstandards, welche sich zu Lasten der Entwicklungsländer auswirken würden, in Welthandelsabkommen zu verankern. Ebenso kritisch wird wahrgenommen, wenn die Industriestaaten anstreben, das Prinzip der „gemeinsamen aber differenzierten Verantwortung“ im internationalen Klimaregime auszuhöhlen, wonach vor allem die Industriestaaten für den Klimawandel und dessen Bekämpfung verantwortlich seien. Zum anderen richtet sich das Prinzip der Nichtdiskriminierung gegen Praktiken, die Indiens besonderen Status in der Welt missachten, indem sie etwa Indien – die größte Demokratie der Welt – auf eine Stufe mit Pakistan stellen. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung hat insbesondere Indiens Beziehungen zu den westlichen Demokratien belastet, die Indien bis zur Jahrtausendwende wenig politische und wirtschaftliche Bedeutung beigemessen haben und dessen Weigerung, sein Nuklearprogramm aufzugeben und dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, als eine Bedrohung für die internationale Sicherheit verstanden.

    Für Indien ist der Atomwaffensperrvertrag hingegen Sinnbild einer zutiefst diskriminierenden nuklearen Ordnung. Er hat in den Worten des früheren indischen Außenministers Jaswant Singh eine Situation der „nuklearen Apartheid“ geschaffen, in der „willkürlich zwischen Nuklearmächten und nuklearen Habenichtsen unterschieden wird“ (Singh 2013: 167). Vor dem Hintergrund der unbefristeten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags und dem Ausbleiben ernsthafter Abrüstungsbestrebungen seitens der rechtmäßigen Atommächte hat die indische Regierung die Atomtests im Mai 1998 als direkte Reaktion auf diese „nukleare Apartheid“ verkauft.

    Angesichts dieser und anderer „diskriminierender“ und „hegemonialer“ Praktiken in der globalen Ordnung folgt Indien – wie im Unabhängigkeitskampf unter der Führung Mahatma Gandhis – dem Prinzip des passiven Widerstandes (satyagraha). Es weigert sich, in „Systeme mit ungleichen und diskriminierenden Regeln“ (Singh 2005) wie etwa den Atomwaffensperrvertrag einzutreten, obgleich es dessen zentrale Regeln befolgt. Indien nimmt daher regelmäßig die Rolle eines Veto-Spielers in internationalen Verhandlungen ein, der beispielsweise in der internationalen Klima- und Handelspolitik besonders harte Verhandlungspositionen einnimmt und auch nicht davor zurückschreckt, Verhandlungen zu blockieren oder von internationalen Abkommen fernzubleiben. Hintergrund dieser Positionierung ist die Überzeugung, dass Verhandlungen grundsätzlich Nullsummenspiele sind, in der eine Seite gewinnt und die andere verliert. Daher gilt es, eine bewusst extreme Verhandlungsposition einzunehmen und so wenig Zugeständnisse wie möglich vor Abschluss eines Abkommens zu machen.

    Nach außen verkaufen indische Politiker und Diplomaten dieses Verhalten gerne als eine prinzipientreue Politik, indem sie Indien als Verteidiger der Interessen des Globalen Südens und moralisch integer portraitieren, während die Gegenseite und ihre Position als moralisch fragwürdig und dünkelhaft dargestellt werden. Dabei geht es ihnen vor allem darum, mindestens Ebenwürdigkeit mit ihren Verhandlungspartnern zu erreichen. Verstärkt durch die Erfahrung des Kolonialismus gibt es eine starke Tendenz im außenpolitischen Diskurs, Indien als Opfer diskriminierender Praktiken und andere Akteure als Peiniger darzustellen, die Indien seinen rechtmäßigen Platz in der Welt streitig machen. Während indische Entscheidungsträger zu Recht auf Diskriminierung und Doppelmoral in der globalen Politik hinweisen, kann Indien der gleiche Vorwurf gemacht werden. Über Jahrzehnte hat Indien die Nuklearmächte angeprangert, wollte letztlich jedoch auch Teil des nuklearen Klubs werden. Zwar rechtfertigt die indische Regierung die Atomtests als Protest gegen die „nukleare Apartheid“, aber gleichzeitig will sie nicht, dass andere Staaten dem indischen Beispiel folgen. Kurz: Indische Regierungen fordern Gleichheit und Fairness ein, um wie im Fall der globalen nuklearen Ordnung Indiens Ausgrenzung und Diskriminierung zu überwinden, während sie in anderen Sektoren wie etwa Klima- und Handelspolitik an den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Differenzierung festhalten. Auch wenn Indien sich gerne als Repräsentant der Entwicklungsländer präsentiert, dürfte es Indiens Entscheidungsträgern weniger um allgemeine Gleichheit und Gleichbehandlung gehen, sondern primär um die Wahrung und Förderung eigener Privilegien und Interessen.

    Kein natürlicher Partner des Westens

    Das US-indische Nuklearabkommen und die zahlreichen strategischen Partnerschaften, die Indien mit den westlichen Industriestaaten in den letzten Jahren geschlossen hat, zeigen zum einen, dass diese Staaten heute deutlich mehr Verständnis für Indien aufbringen. Zum anderen weisen sie darauf hin, dass Indien seine Rolle in der Welt neu definiert hat und über ein differenziertes Netzwerk aus Partnern verfügen will. Politiker und Diplomaten in den westlichen Demokratien sollten hiermit jedoch nicht die Erwartung verbinden, mit Indien einen natürlichen Partner zu haben, der liberale Werte und Interessen in ihrem Sinne vertritt. Indien definiert seine Identität und Rolle in der Welt nach wie vor auch in Abgrenzung zum Westen und dessen Praktiken in der globalen Politik. Zwar wollen indische Entscheidungsträger, dass ihr Land von den westlichen Staaten Anerkennung erfährt, gleichzeitig aber Indiens politische und kulturelle Andersartigkeit sowie seine Souveränität und Autonomie behaupten. Ebenso sind sie sich bewusst, dass sich Indiens Interessen in vielen globalen Politikfeldern deutlich stärker mit den Interessen der Schwellen- und Entwicklungsländer decken und es daher fatal wäre, Indiens Beziehungen zu diesen Ländern zugunsten engerer Beziehungen mit dem Westen zu opfern.

    Um mit Indien effektiver zu verhandeln, sollten westliche Verhandlungspartner für Indiens Interessenlage ein besseres Verständnis entwickeln und dem Weltordnungsprinzip der Nichtdiskriminierung mehr Beachtung schenken. Der Bezug auf dieses Ordnungsprinzip würde es den westlichen Industriestaaten beispielsweise erlauben, Indien an seinen eigenen moralischen Maßstäben zu messen und Widersprüche in der indischen Praxis stärker zu problematisieren. So könnten westliche Verhandlungspartner in der internationalen Klimapolitik Indiens eigene Forderung nach Fairness und Berücksichtigung der Interessen der Entwicklungsländer aufgreifen und Bündnisse gerade mit jenen Entwicklungsländern schließen, die besonders stark vom Klimawandel betroffen sind und sich mehr Engagement von Indien wünschen. Denn Solidarität mit den Entwicklungsländern zählt nach wie vor zum Selbstverständnis Indiens, und indische Entscheidungsträger zeigen größere Bereitschaft, für diese Staatengruppe Verantwortung zu übernehmen.

    Aussichtslos hingegen erscheint es, Indien mittels Druck und Isolation zur Aufgabe oder Änderung seiner Verhaltens- und Verhandlungspositionen zwingen zu wollen. Es zählt zu den Gründungsmythen, dass die indische Nation mittels des passiven und beständigen Widerstands das mächtige Britische Imperium in die Knie gezwungen habe. Wesentlicher Teil der Identität Indiens ist bis heute die Überzeugung, sich gegen Unrecht und Diskriminierung in der Welt zur Wehr zu setzen – auch bei noch so starker Gegnerschaft.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Asien

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Wie man diesen Artikel zitiert

      Thorsten Wojczewski (2016), Indische Weltordnungspolitik: Viele Partner, keine Allianzen, GIGA Focus Asien, 6, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-48136-3


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      Dr. Thorsten Wojczewski

      Dr. Thorsten Wojczewski

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