GIGA Focus Afrika

Flüchtlinge aus Eritrea: Spielball europäischer Interessen

Nummer 2 | 2016 | ISSN: 1862-3603


  • Migranten auf einem Flüchtlingsschiff.
    © Reuters / Antonio Parrinello
    Migranten auf einem Flüchtlingsschiff.
    © Reuters / Antonio Parrinello

    Im vergangenen Jahrzehnt flohen hunderttausende Eritreer vor staatlich verordneter Zwangsarbeit im unbefristeten Nationaldienst in die Nachbarländer. Die EU bemüht sich nun, die Menschen durch die Vergabe von beträchtlichen Finanzmitteln an die Regime Eritreas und des Sudan von Europa fernzuhalten. Bisherige Pläne zielen nicht auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Betroffenen ab, sondern auf verstärkte Repression.

    • Seit der Einführung eines zeitlich unbefristeten Nationaldienstes im Jahr 2002 arbeiten hunderttausende Eritreer im erwerbsfähigen Alter gegen minimalen Lohn in militärischen und zivilen Aufgabenfeldern für den Staat. Dieses System organisierter Zwangsarbeit führte zu einer Massenflucht und zur Entstehung organisierten Menschenschmuggels.

    • Seit dem Jahr 2014 gelangten zehntausende Eritreer über Libyen nach Europa. Die Mehrzahl der Geflüchteten lebt jedoch unter oft prekären Bedingungen in den Nachbarländern Äthiopien und Sudan. Sie leben in Furcht davor, Menschenhändlerbanden zum Opfer zu fallen oder aus dem Sudan in ihr Heimatland deportiert zu werden, wo ihnen Haft ohne Gerichtsverfahren droht, da ihre Flucht als Landesverrat gilt.

    • Die EU versucht im Rahmen des Khartum-Prozesses, den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen. Hierzu sollen sudanesische Militär- und Polizeikräfte bei der Erfassung und Internierung von Geflüchteten unterstützt werden.

    • Gleichzeitig hat die EU die Entwicklungszusammenarbeit mit Eritrea wiederaufgenommen und 200 Mio. EUR zum Ausbau des Energiesektors und zur Verbesserung der Regierungsführung bewilligt. Diese Hilfe ist nicht an Bedingungen gebunden.

    Fazit

    Das Hofieren autokratischer Regime ist keine erfolgreiche Strategie, um Flucht-ursachen zu bekämpfen. Entwicklungshilfe sollte stattdessen an Bedingungen gebunden sein und umfassende Reformen fordern und unterstützen. Hierzu gehört zuvorderst eine Verkürzung des Nationaldienstes als Hauptfluchtursache, die Liberalisierung der eritreischen Kommandowirtschaft und die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen.

    Unbefristeter Nationaldienst, Zwangsarbeit und Massenexodus

    Kurz nach Eritreas Unabhängigkeit von Äthiopien im Jahr 1993 führte die aus der Eritreischen Volksbefreiungsfront hervorgegangene Regierung einen achtzehnmonatigen Militär- und Nationaldienst ein, der einerseits dem Wiederaufbau des Landes nach 30 Jahren Befreiungskrieg dienen und zugleich die maoistisch geprägte Ideologie der Kämpfer an die jüngere Generation weitervermitteln sollte. Bald darauf kam es zu einem weiteren verheerenden Krieg mit Äthiopien in den Jahren von 1998 bis 2000. Zwei Jahre später sprach ein internationales Schiedsgericht, die Eritrea-Ethiopia Boundary Commission (EEBC) Teile des umstrittenen Grenzgebiets Eritrea zu; Äthiopien weigert sich bis heute, das Verdikt umzusetzen. Im Gegenzug sprach Eritrea von einem Zustand des Kalten Friedens und verlängerte im Jahr 2002 den Nationaldienst auf unbestimmte Zeit. Männer müssen seither ab einem Alter von 18 Jahren bis zum Alter von mindestens 50 Jahren gegen ein Taschengeld für militär- und parteieigene Firmen arbeiten, das gleiche gilt für Frauen bis zum Alter von 27. Je nach Qualifikation werden sie für manuelle Tätigkeiten im Bau und in der Landwirtschaft, in der Verwaltung, als Lehrer oder medizinisches Personal eingesetzt. Den Arbeitsort bestimmt die Regierung, sodass Familien oft dauerhaft auseinandergerissen werden. Die Aussicht auf ein Leben im Frondienst, das den Betroffenen nicht erlaubt, ihre Angehörigen zu ernähren, hat zu einem Massenexodus geführt (Hirt und Mohammad 2013; Kibreab 2014). Derzeit fliehen nach UNHCR-Angaben trotz Schießbefehl an der Grenze monatlich 5.000 überwiegend junge Menschen über die Grenzen nach Äthiopien und in den Sudan oder über das Rote Meer auf die Arabische Halbinsel.

    Stationen der Flucht

    Das europäische Interesse an Eritrea und den Ursachen für die Flucht aus dem Land stieg im Jahr 2014 sprunghaft an, als laut UNHCR 37.000 eritreische Flüchtlinge nach Europa gelangten – ein starker Anstieg von 13.000 schutzsuchenden Eritreern im Jahr 2013. Im Jahr 2015 kamen erneut knapp 40.000 Eritreer über das Mittelmeer, was das kleine Land mit ca. 4 Millionen Einwohnern zum größten „Flüchtlingsproduzenten“ Afrikas macht. Hierbei wird oft vergessen, dass der Großteil der Geflüchteten in den Nachbarländern Sudan und Äthiopien verbleibt: 130.000 bzw. 125.000 vom UNHCR registrierte Eritreer leben dort, darunter befindet sich ein erheblicher Teil unbegleiteter Minderjähriger. Die Dunkelziffer der nicht Registrierten ist besonders im Sudan weitaus höher. In Äthiopien leben die meisten Flüchtlinge unter prekären Bedingungen in Camps in den Grenzprovinzen Tigray und Afar. Ihre rudimentäre Versorgung mit Lebensmitteln ist gewährleistet, jedoch bieten die Lager keinerlei berufliche Perspektiven. Eine Minderheit von Personen, die Verwandte im Land hat, versorgt sich selbst, und einige Eritreer studieren gar an äthiopischen Universitäten. Die Mehrheit wartet jedoch (meist erfolglos) darauf, in Umsiedlungsprogramme des UNHCR in Industrieländer aufgenommen zu werden oder macht sich auf in Richtung Europa. Im Sudan sind die Lebensbedingungen in den Lagern ähnlich perspektivlos, weshalb die Mehrzahl der Ankommenden versucht, weiter nach Khartum zu gelangen, wo Eritreer über ihre dort seit dem Befreiungskampf etablierte Diaspora relativ leicht Arbeit finden. Mit ihrem Ersparten bezahlen sie Schmuggler, die den Weg über Libyen und neuerdings über Ägypten nach Europa freizumachen versprechen. Rund um die Flüchtlingslager und in der sudanesischen Hauptstadt floriert eine Menschenschmuggel- und Menschenhandelsindustrie, in die sowohl eritreische als auch sudanesische Offizielle involviert sind (Van Reisen, Estefanos und Rijken 2014). Während zwischen den Jahren 2009 und 2012 zehntausende eritreische Flüchtlinge versuchten, über die ägyptische Sinai-Halbinsel nach Israel zu gelangen und unterwegs in die Hände skrupelloser Beduinen fielen, die sie folterten, um Geld von Verwandten in der Diaspora zu erpressen, verlagerte sich der Fluchtweg in den letzten Jahren wieder nach Libyen, wo ebenfalls Menschenhändler und -schmuggler ihre fragwürdigen Geschäfte treiben (SAHAN/IGAD 2016).

    Zwischen Angst und Hoffnung

    Die Gefahren einer Reise nach Europa sind weithin bekannt. Tausende Eritreer und Eritreerinnen, darunter schwangere Frauen und Neugeborene, sind in den vergangenen Jahren nach dem Kentern ihrer Boote ums Leben gekommen. Allein in der letzten Maiwoche 2016 ertranken etwa 880 Menschen (UNHCR 2016), viele von ihnen aus Eritrea. Dennoch träumen sehr viele Eritreer von einer Weiterreise nach Europa. Einerseits stehen sie in Kontakt mit Freunden und Verwandten, die entweder schon seit Jahrzehnten dort leben oder gerade neu angekommen sind – und die häufig ihre Lage beschönigen, was einen Pull-Effekt zur Folge hat. Andererseits fürchten viele der in den Nachbarländern Gestrandeten nicht nur die Perspektivlosigkeit eines Lebens im Flüchtlingslager. Sie hegen auch die berechtigte Furcht, in den Camps von Menschenhändlern gekidnappt und an verbrecherische Banden verkauft zu werden. Allerdings besteht auch während der Flucht die Gefahr, in die Hände solcher Gruppen zu fallen, derzeit vor allem im vom Staatszerfall geprägten Libyen (SAHAN/IGAD 2016). Im Sudan, dessen Regierung enge Beziehungen zum eritreischen Diktator Isaias Afewerki pflegt, leben viele Eritreer in ständiger Angst, von Agenten ihrer Regierung aufgegriffen und nach Eritrea deportiert zu werden (Treiber 2013). In den vergangenen Jahren waren vor allem Oppositionelle oder ehemalige Offizielle des eritreischen Regimes von solchen Aktionen betroffen; in jüngster Zeit fanden jedoch regelrechte Razzien statt. Ende Mai 2016 wurden 900 Eritreer in Khartum und 400 auf der Fluchtroute nach Libyen von sudanesischen Soldaten aufgegriffen. Versuche der Schmuggler, wie gewohnt die involvierten Sicherheitskräfte zu bestechen, fruchteten erstmals nicht. Die Flüchtlinge wurden inhaftiert und dann nach Zeugenaussagen mithilfe der eritreischen Botschaft auf Lastwagen nach Eritrea deportiert, wo sie in ein Gefängnis verbracht wurden (IRIN 2016; Sudan Tribune 2016). Das illegale Überqueren der Grenzen, um dem Nationaldienst zu entgehen, wird in Eritrea als Landesverrat gewertet. Dabei Aufgegriffene werden keinem rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt, sondern meist monatelang in Straflagern gefangen gehalten, um danach wieder im Nationaldienst eingesetzt zu werden.

    Hier stellt sich nun die Frage, weshalb die ansonsten in puncto Menschenschmuggel eher laxe sudanesische Regierung plötzlich zu derartigen Maßnahmen greift. Sudanesische Beamte sind, besonders in den eng mit dem eritreischen Regime kooperierenden Ostprovinzen (Kassala und Al-Bahr Al-Ahmar) sowie in Khartum, oft selbst in den Menschenhandel involviert oder profitieren indirekt durch Bestechungsgelder davon. Möglicherweise stehen die jüngsten Anti-Flüchtlingsrazzien in Verbindung mit den in Aussicht gestellten europäischen Finanzhilfen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms.

    Die EU und der Khartum-Prozess: Komplizenschaft mit den Fluchtverursachern?

    Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen aus Eritrea und anderen afrikanischen Ländern beschloss die EU im Herbst 2014, im Rahmen des Khartum-Prozesses mit autokratischen bzw. hochgradig autoritären Regimen wie denen Eritreas, des Sudan und Äthiopiens zusammenzuarbeiten, um illegale Migration und Menschenhandel zu begrenzen. Man will verhindern, dass Flüchtlinge weiter nach Europa reisen. Hierzu soll u.a. der Grenzschutz dieser Staaten verbessert und ihre Institutionen gestärkt werden, um Migrationsströme zu verhindern. Mit dem vagen Versprechen, die Fluchtwelle aus dem eigenen Land bekämpfen zu wollen, gelang es der eritreischen Regierung darüber hinaus, Ende 2015 eine Zusage über 200 Mio. EUR Entwicklungshilfe von der EU zu erhalten, die nicht an demokratische Reformen oder an eine Reform des Nationaldienstes gebunden ist. Wie der Spiegel und Report Mainz berichten, plant die EU-Kommission, über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Grenzschutzausrüstungen wie Kameras und Scanner an den Sudan zu liefern, um die Registrierung der Flüchtlinge zu erleichtern und Grenzschutzpersonal auszubilden (Spiegel Online 2016). Offenbar will man Flüchtlingen aus Eritrea, denen trotz Schießbefehl die Überquerung ihrer Landesgrenze gelungen ist, die Weiterreise über den Sudan nach Europa verwehren bzw. erschweren. Bezeichnend ist, dass die involvierten EU-Repräsentanten wohl selbst wenig überzeugt vom Sinn solcher Maßnahmen sind, da sie laut Spiegel unter allen Umständen verhindern wollten, dass das Ergebnis ihrer Beratungen an die Öffentlichkeit gelangte.

    Eigentlich ist man sich in der EU und der Bundesregierung einig, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen im Mittelpunkt stehen sollte, um die Migration nach Europa einzudämmen. Auch weiß man in der EU, dass die Flucht aus Eritrea primär durch den zeitlich unbefristeten Nationaldienst, die Unterdrückung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte sowie durch fehlende privatwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten verursacht wird (GSDRC 2016: 1). Vor diesem Hintergrund mutet es seltsam an, dass der Khartum-Prozess nur sehr begrenzt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern abzielen soll, sondern dass eher neue Camps mit Gefängniszellen geplant sind (Spiegel Online 2016). Ebenfalls fragwürdig erscheint, dass man dem sudanesischen Präsidenten Al-Bashir, der vom Internationalen Gerichtshof der Menschheitsverbrechen (crimes against humanity) bezichtigt wird, Gelder zur Stärkung seiner Sicherheitskräfte zukommen lässt. Gleichzeitig verspricht die EU dem eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki, der von einer UN-Menschenrechtskommission ebensolcher Verbrechen verdächtigt wird, Entwicklungshilfegelder, die nicht an Bedingungen gebunden sind. Regierungsunabhängige NGOs zur Umsetzung von Projekten jenseits staatlicher Kontrolle sind in Eritrea verboten; die Mittelverwendung durch die Regierung ist absolut intransparent – das Land hat in 25 Jahren Unabhängigkeit noch keinen einzigen Staatshaushalt veröffentlicht.

    Europa als Spielball des eritreischen Regimes

    Die europäische Eritrea-Politik ist seit jeher von Inkonsequenz und der Bereitschaft, sich vom eritreischen Regime an der Nase herumführen zu lassen, geprägt: Bereits im Jahr 1997 beendete die eritreische Regierung unter Berufung auf ihre eigenverantwortliche Entwicklungsstrategie einseitig die Zusammenarbeit mit bilateralen europäischen Gebern, nur um sie nach dem Krieg mit Äthiopien im Jahr 2001 zurückzurufen. Im selben Jahr erlebte das Land eine politische Krise. Der Präsident ließ elf hochrangige Mitglieder der Regierungspartei verhaften, welche politische Reformen und die Eindämmung seiner Alleinherrschaft gefordert hatten, und erteilte der Implementierung der im Jahr 1997 ratifizierten Verfassung sowie künftigen Demokratisierungsprozessen eine Absage.

    Auch die Journalisten der freien Presse ereilte das gleiche Schicksal: Sie wurden wie die Reformer über Jahre hinweg ohne Gerichtsverfahren in Isolationshaft gehalten; die meisten gelten aufgrund der miserablen Haftbedingungen inzwischen als verstorben. Nach der Verhaftungswelle protestierte der damalige italienische Botschafter Bandini im Namen der EU bei Präsident Isaias und wurde von diesem prompt des Landes verwiesen. Die übrigen EU-Vertreter wurden zunächst abgezogen, kehrten aber bald zurück nach Asmara, ohne weiter gegen die gravierenden Menschenrechtsverletzungen des Regimes zu protestieren. Im Jahr 2005 wurden erneut nahezu alle bilateralen Geber und internationalen NGOs des Landes verwiesen. Unverdrossen bemühte sich die EU jedoch ab dem Jahr 2007 um eine Wiederannäherung durch Dialog. Der damalige EU-Entwicklungskommissar Louis Michel versuchte auf diese Art vergeblich, die Freilassung des schwedisch-eritreischen Journalisten Dawit Issak zu bewirken. Im Jahr 2009 bewilligte die EU der eritreischen Regierung 122 Mio. EUR Entwicklungshilfe, wovon 34 Mio. in den Straßenbau flossen. Alle Baufirmen befinden sich seit dem Jahr 2006 im Besitz der Regierungspartei und setzen systematisch Nationaldienstrekruten als Zwangsarbeiter ein. Somit erteilte die EU dem eritreischen Regime quasi einen Freibrief für seine Zwangsmilitarisierungspolitik.

    Im Jahr 2011 beschloss die eritreische Regierung wiederum, die verbliebenen EU-Gelder zurückzuweisen und die Zusammenarbeit einstweilen zu beenden – vermutlich, da in diesem Jahr die Goldförderung im Land begann. Doch schon im Jahr 2014 zeigte sich Eritreas Machthaber erneut aufgeschlossen für diverse europäische Delegationen, die das Land bereisten und Gelder für Ausbildungsprogramme anboten, um im Gegenzug die Eindämmung des Flüchtlingsstroms durch die Regierung zu verlangen. Im Dezember 2015 bewilligte die EU unter dem 11. Europäischen Entwicklungsfonds 200 Mio. EUR, die in den Energiesektor und in den Bereich einer verbesserten Regierungsführung fließen sollen. Selbst der deutsche Minister für Entwicklung und Zusammenarbeit Dr. Gerd Müller reiste zu Präsident Isaias, um eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zu diskutieren (Deutsche Botschaft Asmara 2015).

    Kein Ende des zeitlich unbegrenzten Nationaldienstes in Sicht

    Im Jahr 2015 versprach Präsidentenberater Yemane Gebreab mehrfach ausländischen Delegationen, der Nationaldienst werde für die jüngste Rekrutierungsrunde auf 18 Monate begrenzt. Dieses Versprechen wurde nun aber gegenüber einer schweizerisch-deutschen Gesandtschaft revidiert, die sich daraufhin enttäuscht zeigte (Swissinfo.ch 2016). Diese Enttäuschung spiegelt die Fehleinschätzung der europäischen Politik bezüglich des wahren Ausmaßes des Nationaldienstes wider. Nach dem Ende des eritreisch-äthiopischen Krieges finanzierte die Weltbank ein 200 Mio. USD schweres Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm für die damals ca. 250.000 Soldaten und Soldatinnen der eritreischen Armee mit dem Ziel, ihnen ein Leben als Zivilpersonen zu ermöglichen. Dieses Programm wurde ein Jahr später abrupt gestoppt und seither wurden jährlich mehr als 20.000 junge Menschen neu rekrutiert. Nach Regierungsmeldungen hatten im Jahr 2015 insgesamt eine halbe Million Eritreer und Eritreerinnen das Militärcamp Sawa absolviert, das als Internatsschule und Startpunkt für den Nationaldienst fungiert. Demobilisiert wurden seit 2002 nur verheiratete Frauen. Männer leisten in der Regel jahrzehntelang Dienst im Militär oder in zivilen Tätigkeitsbereichen. Einzige Alternative ist die Flucht außer Landes.

    Vermutlich umfasst die Zahl der Nationaldienst-Leistenden derzeit mindestens 300.000 Personen bei einer Bevölkerung von ca. 4 Millionen. Um diese über ein Demobilisierungsprogramm in den Privatsektor zu reintegrieren, bedarf es nicht nur einer ausgeklügelten Strategie, sondern auch der Bereitschaft der Regierung, die Wirtschaft zu liberalisieren, private Initiativen zuzulassen und ihre starre Kontrolle über alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu lockern. Das Regime rechtfertigt die Zwangsmilitarisierung der gesamten Gesellschaft (Hirt und Mohammad 2013) mit der fortbestehenden Bedrohung durch Äthiopien und der Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, das Nachbarland zur Implementation der EEBC-Grenzentscheidung zu bewegen. Es ist zutreffend, dass der internationale Druck auf Äthiopien sich in engen Grenzen hält – zu sehr wird das Land als Hort der Stabilität am volatilen Horn von Afrika geschätzt. Die Massenrekrutierung der Eritreer in die Armee und in den staatlichen Zwangsdienst dient jedoch keinesfalls der Stärkung der Verteidigungsbereitschaft – hierzu wäre eine professionelle, gut ausgebildete und bezahlte Berufsarmee weitaus sinnvoller. Die gewählte Strategie kann vielmehr als Rückfall des Landes in den vorstaatlichen Modus des Unabhängigkeitskampfes interpretiert werden. Das Volk soll sich, anstatt die Früchte der Unabhängigkeit zu genießen, wie damals patriotisch und unentgeltlich für die Nation aufopfern – und wählt stattdessen die Flucht. Im Jahr 2000 wurde nach dem Ende des eritreisch-äthiopischen Krieges im Friedensabkommen von Algier beschlossen, die Entscheidung über den Grenzverlauf einer internationalen Kommission zu übertragen. Die EU als einer der Bürgen des Abkommens stünde hier in der Pflicht, Äthiopien zur Implementierung der im Jahr 2002 erfolgten völkerrechtlich bindenden Grenzentscheidung zu drängen, womit sie der eritreischen Regierung die ideologische Rechtfertigung für ihre Politik nehmen würde.

    Bemerkenswert ist auch, dass Eritreas politische Führung entgegen ihrer eigenen Rhetorik seit einiger Zeit den Massenexodus bewusst in Kauf nimmt, da dieser zur innenpolitischen Stabilität beiträgt: Zum einen dient er als Ventil für die frustrierte Jugend, die ihr Heil in der Flucht anstatt im Widerstand sucht; zum anderen verlangt die Regierung von im Ausland lebenden Eritreern eine Diasporasteuer in Höhe von 2 Prozent ihres Einkommens, die zusammen mit anderen Spenden und Abgaben ca. ein Drittel des Staatsbudgets ausmacht (Hirt 2015: 125). Mindestens ebenso wichtig sind private Geldtransfers an die zurückgebliebenen Angehörigen, die durch den Nationaldienst am Broterwerb gehindert werden. Das Regime profitiert somit indirekt vom Exodus der Bevölkerung und verfügt über ausgeklügelte transnationale Strukturen, um die Diaspora in Schach zu halten, und steht – dessen sollte man sich bewusst sein – nicht kurz vor dem Zusammenbruch und ist daher auch nicht reformwillig.

    Mögliche Alternativen: Was kann Europa tun?

    Der Khartum-Prozess und das politische Hofieren der eritreischen Regierung durch europäische Politiker wird nicht zu politischen Reformen führen, sondern die Machtposition der politischen Elite weiter stärken. Das Regime hat über die Jahre gelernt, die Dialogbereitschaft der EU zu seinem materiellen Vorteil auszunutzen, ohne jemals zu Konzessionen in puncto Demokratie und Menschenrechte bereit gewesen zu sein. Die derzeitige Strategie Europas, einerseits auflagenfreie Gelder aus dem 11. Entwicklungsfonds an Eritrea zu vergeben, deren Verwendung nichts an den Fluchtursachen ändern wird, und gleichzeitig Geld in den sudanesischen Sicherheitssektor zu investieren, um Flüchtlinge, die derzeit in Deutschland uneingeschränkt als Asylberechtigte anerkannt werden, zu registrieren und vorsorglich zu internieren, kann nur als zynisch bezeichnet werden.

    Notwendig wären stattdessen klare Forderungen seitens der EU und an Konditionen gebundene Hilfen, um die sattsam bekannten Fluchtursachen zu bekämpfen:

    • Reform des zeitlich unbefristeten eritreischen Nationaldienstes im Rahmen eines Demobilisierungsprogramms, für das erhebliche finanzielle Mittel eingesetzt werden müssten.

    • Liberalisierung der von Regierungspartei und Militär kontrollierten Kommandowirtschaft.

    • Rechtsstaatliche und demokratische Reformen.

    • Es ist davon auszugehen, dass der eritreische Präsident trotz sporadischer Lippenbekenntnisse nicht willens ist, derartige Reformen in Angriff zu nehmen. Erforderlich wäre daher eine konsequente Politik, die finanzielle Unterstützung von einem konkreten Reformprogramm abhängig macht.

    • Ziel des Khartum-Prozesses und ähnlicher Programme sollte nicht ein restriktives Vorgehen gegen Flüchtlinge sein, sondern die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen vor Ort in den Nachbarländern.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Afrika

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Wie man diesen Artikel zitiert

      Nicole Hirt (2016), Flüchtlinge aus Eritrea: Spielball europäischer Interessen, GIGA Focus Afrika, 2, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-47875-6


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      Democratization | 2016

      Communicating Authoritarian Elite Cohesion

      Andreas Schedler

      GIGA Working Papers | 06.2015

      Authoritarian Regime Learning: Comparative Insights from the Arab Uprisings

      Dr. Mirjam Edel

      Eberhard Karls Universität Tübingen

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