Kurz notiert

"Guatemala braucht mehr als einen neuen Präsidenten"

Kurz vor den Wahlen ist Guatemalas Präsident Pérez wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetreten. Dies ist ein erster Erfolg für die Protestbewegung. Doch ohne tiefgreifende Reformen wird sich nichts ändern. Von Sabine Kurtenbach

People protesting
© Reuters/Jorge Dan Lopez
People protesting
© Reuters/Jorge Dan Lopez

Nur vier Tage vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl ist der guatemaltekische Präsident Otto Pérez Molina zurückgetreten. Am Dienstag hatte ihm das Parlament die Immunität entzogen und ein Richter einen Haftbefehl erlassen. Dem Präsidenten wird vorgeworfen gemeinsam mit seiner im Mai zurückgetretenen Vizepräsidenten der Kopf eines umfassenden Korruptionsnetzwerks im Umfeld der nationalen Steuerbehörde zu sein.

Seit die Internationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit (CICIG) Ende April Beweise für die Verwicklung höchster Regierungsmitglieder veröffentlicht hat, ist keine Woche ohne Demonstrationen gegen die Regierung und die Korruption vergangen. Otto Pérez hatte einen Rücktritt bisher stets abgelehnt. Nachdem ihn nach dem einflussreichen Unternehmerverband CACIF nun auch das Parlament die Unterstützung entzog, gab er dem Druck nach. Seine Amtszeit wäre ohnehin im Januar 2016 beendet, da Guatemalas Bürger am 6. September einen neuen Präsidenten und Parlamentsabgeordnete wählen.

Zweifelsohne benötigt Guatemala einen neuen Präsidenten. Ein Personalwechsel an der Regierungsspitze nach den Wahlen vom Sonntag reicht zur Bewältigung der Krise aber nicht aus. Die guatemaltekische Gesellschaft braucht grundsätzliche Reformen im politischen System, eine Stärkung des Rechtsstaates und einen gesellschaftlichen Mindestkonsens über die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Regierung und Parlament.

Den Parteien fehlen Inhalte und Programme

Seit Mitte der 1980er Jahre werden Volksvertreter gewählt, seit Ende des dreißigjährigen Bürgerkriegs 1996 beteiligt sich daran ein breites Spektrum an Parteien. Allerdings fehlen insbesondere den größeren Parteien Inhalte und Programme jenseits populistischer Slogans. Im Wesentlichen handelt es sich um Wahlvereine für Einzelpersonen, die ihre eigenen (auch ökonomischen) Interessen über ein Mandat im Parlament oder eine Beteiligung an der Regierung absichern.

Symptomatisch ist, dass bisher keine einzige Regierungspartei wiedergewählt worden ist; viele lösen sich nach dem Abtritt des jeweiligen Präsidenten auf oder versinken in der Bedeutungslosigkeit. Während einer Legislaturperiode wechseln Abgeordnete die Partei, wenn sie sich davon persönliche Vorteile versprechen. Und das sind keine Einzelfälle: Seit den letzten Wahlen 2011 haben fast zwei Drittel der Parlamentarier die Partei verlassen, auf deren Liste sie gewählt worden waren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass das Parlament vielfach ein Flaschenhals für Reformen war. Die Aufhebung der Immunität von Präsident Pérez Molina ist deshalb kein Zeichen rechtsstaatlicher Läuterung, sondern der Versuch, sich im letzten Moment zu distanzieren.

Mangelnde Transparenz, fehlende Rechenschaftspflicht und defizitäre Rechtsstaatlichkeit sind weit verbreitet. Politisches Handeln kommt überwiegend der Besitzstandswahrung der wirtschaftlichen Eliten zugute. Diese finanzieren die politischen Parteien vor allem, damit es gerade keine grundlegenden Veränderungen gibt. Im aktuellen Wahlkampf sollen drei Viertel der Gelder aus dem Umfeld illegaler Aktivitäten wie dem Drogenhandel oder Schmuggel stammen. Guatemala verfügt zwar über Gesetze zur Transparenz und Begrenzung der Parteienfinanzierung, die oberste Wahlbehörde hat aber wenig Möglichkeiten, Verstöße zeitnah und wirkungsvoll zu sanktionieren.

Es herrscht Ratlosigkeit

Die Proteste der vergangenen Monate zeigen, dass ein wachsender Teil der guatemaltekischen Gesellschaft nicht mehr Willens ist, diese Situation hinzunehmen. Nach Jahrzehnten der politischen Apathie und des sozialen Stillstands findet ein Querschnitt der Bevölkerung – jung und alt, Indigene und Mestizen, Stadt- und Landbewohner – eine Stimme. Allerdings erschöpft sich dies bisher auf die Forderung nach Rücktritt des Präsidenten und einem Ende der Korruption. Darüber hinaus herrscht eher Ratlosigkeit: Welche Reformen sind zwingend notwendig? Wie sollen sie zustande kommen? Wer soll und kann sie umsetzen?

Auch die Rolle der Wahlen vom Sonntag wird sehr kontrovers diskutiert. Viele Kandidaten für das Parlament und die Präsidentschaft stehen abermals unter Korruptionsverdacht; teilweise wird bereits gegen sie ermittelt. Kleinere Parteien wie die der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú haben wenig Chancen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass von den Wahlen allein ein umfassender Impuls für die notwendigen grundlegenden Reformen der politischen Institutionen des Landes ausgehen wird.

Den Demonstranten und allen reformorientierten Kräften fällt deshalb die Aufgabe zu, nicht nur zur Wahl unbelasteter Kandidaten aufzurufen, sondern in den folgenden Monaten und Jahren aktiv Vorschläge für Reformen zu formulieren sowie deren Verabschiedung und Umsetzung zu begleiten. Guatemala hat durchaus historische Momente erlebt, in denen gesellschaftliche Mobilisierung einen wichtigen Beitrag für Demokratie und Reformen geleistet hat.

Damit sich wirklich etwas ändert, muss ein übergreifender Konsens zugunsten von Rechtsstaatlichkeit, Allgemeinwohlorientierung und Transparenz entstehen. Das gilt insbesondere im Steuersystem, das sich durch eine der weltweit niedrigsten Steuerquoten auszeichnet und dessen Reform die wirtschaftlichen Eliten bisher verhindert haben. Nur wenn auch sie sich jenseits punktueller Kritik an offensichtlichen Auswüchsen der Korruption für grundlegende Reformen einsetzen und deren Umsetzung unterstützen, kann die aktuelle Krise eine Chance für grundlegende Veränderungen sein.

Dieser Kommentar ist auch auf ZEIT online erschienen.

Zur Autorin: Dr. Sabine Kurtenbach ist Senior Research Fellow am GIGA und arbeitet zu Gewalt und Institutionen in Nachkriegsgesellschaften. Die Entwicklungen in Guatemala analysiert sie wissenschaftlich seit vielen Jahren in Büchern und Zeitschriften, aber auch als Gutachterin in der Entwicklungszusammenarbeit.

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