GIGA Focus Lateinamerika
Nummer 3 | 2016 | ISSN: 1862-3573
Lateinamerika und die Karibik sind international Vorreiter für ein neues Verhältnis zwischen Staaten und Emigranten – von der Ausweitung des Auslandswahlrechts bis hin zur öffentlichen Kofinanzierung, wenn Rücküberweisungen aus dem Ausland in Entwicklungsprojekte investiert werden. Diese aktive Politik gegenüber den Ausgewanderten stellt jedoch Herkunfts- und Residenzstaaten vor erhebliche Herausforderungen.
Allein in den USA leben rund 18 Millionen Emigranten aus Lateinamerika und der Karibik. Der Anteil der ausgewanderten Bürger beträgt in manchen Ländern der Region 15 Prozent der Bevölkerung.
Abwanderung ist nicht nur Verlust. Rücküberweisungen der Emigranten sind zentrale Säulen vieler Volkswirtschaften – bis hin zu 20 Prozent des BSP in El Salvador. In Lateinamerika insgesamt erreichten sie im Jahr 2014 nicht weniger als 65 Mrd. USD.
Emigranten sind heute in vielfältigen Formen mit den Herkunftsländern verbunden und in ihre Gesellschaften involviert. Geldüberweisungen sind nur die Spitze des Eisbergs dieser transnationalen Netzwerke.
Die Staaten Lateinamerikas und der Karibik entwickeln Politikansätze, die explizit auf die emigrierten Landsleute zielen, um deren soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Bindungen an das Herkunftsland zu stärken. Bei diesen „Emigrant Policies“ ist die Region Vorreiter eines zunehmend globalen Trends.
Das wichtigste Politikfeld dabei sind staatsbürgerliche Rechte, gefolgt von sozialpolitischen Maßnahmen, die eine Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Funktionen über die Staatsgrenzen hinaus darstellen.
Auch für die Aufnahmestaaten der Migranten sind diese Entwicklungen wichtig. Manche Staaten helfen ihren emigrierten Bürgern aktiv dabei, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Solche Politikansätze können die Integrationskosten für Emigranten senken – und bieten ein bislang wenig genutztes Potenzial für die Kooperation von Herkunfts- und Zielstaaten.
In ein anderes Land auszuwandern bedeutet heute nicht mehr, die Verbindungen zu seinem Herkunftsland zu verlieren. Die aktuelle Forschung zeigt eine Reihe von Gründen, warum Herkunftsstaaten ein Interesse an fortdauernden Banden zu ihren Emigranten haben, von Kontrolle der Bevölkerung bis hin zur Sicherstellung eines stetigen Zustroms an Geldüberweisungen oder die Funktionalisierung der Emigranten als außenpolitische Lobby im Residenzland. Die Forschung hat gezeigt, dass Lateinamerika und die Karibik weltweit Pioniere bei der Entwicklung aktiver „Emigrant Policies“ sind. Die ausgewanderten Bürger werden dabei vielfach als „Diaspora“ und die Ansätze zu ihrer Einbindung in die Herkunftsländer als „staatsgeführter Transnationalismus“ (state-led transnationalism) bezeichnet.
Die neue Dynamik der „Emigrant Policies“ verändert die internationale Politik. In der Vergangenheit sahen Staaten in der Auswanderung einen Verlust für das und Verrat am Gemeinwesen. In einer auf exklusive Loyalitäten an einen Nationalstaat orientierten Welt war in der Praxis ein weitgehender Verlust staatsbürgerlicher Rechte die Folge. Gleichzeitig war mit einer aktiven Politik gegenüber der emigrierten Bevölkerung jenseits der Landesgrenzen auch die Sorge verbunden, gängige Normen nationaler Souveränität zu verletzen. Heute hingegen gewähren Staaten ihren emigrierten Bürgern das Wahlrecht, zum Teil mit eigenen Verfahren und sogar mit spezieller Repräsentation im Parlament. Ein solches Engagement von Migranten, die gleichzeitig Bewohner und Bürger zweier Staaten sind, wird zunehmend akzeptiert, wie sich nicht zuletzt in der Zunahme von doppelter Staatsbürgerschaft und Auslandswahlrecht zeigt.
Doch auch wenn diese Entwicklungen heute legitime Formen transnationaler Politik sind, stellen sie sowohl für Herkunfts- als auch für Residenzländer der Migranten kontroverse Themen dar. Dies ist etwa der Fall, wenn, wie in Eritrea, Emigranten zentrale ökonomische Stützen autoritärer Regime sind, wenn die Ausweitung des Wahlrechts auf die Diaspora die politischen Kräfteverhältnisse ändert, wie in Kroatien, wenn Auslandsgemeinden für nationalistische Ziele mobilisiert werden, wie in Ungarn, oder wenn Herkunftsstaaten ihre emigrierten Bürger als Verräter verstehen, wenn sie sich zu weitgehend in ihr Gastland integrieren, wie sich dies gegenwärtig im Fall der Türkei abzeichnet.
Doch nicht überall sind die staatlichen Politiken zu den Emigranten von derartigen Konflikten überlagert. Im Vordergrund stehen in der Regel eine Ausweitung der Rechte der Migranten, ihre Integration in die Gesellschaft des Residenzlandes und eine Erleichterung und Stärkung ihrer Bindungen an das Herkunftsland. Staaten wie Italien oder Mexiko hoffen auf einen Zuwachs an Bürgern, wenn sie sich an Auswanderer zweiter oder dritter Generation wenden, die aufgrund ihrer Abstammung Ansprüche auf Staatsbürgerschaft erheben können. Einige lateinamerikanische Staaten entwickeln auch Programme rechtlicher Unterstützung für ihre Emigranten, wenn diese ohne legale Basis im Aufnahmeland leben.
Die Staaten Lateinamerikas teilen zwar eine Reihe kultureller und rechtlicher Traditionen, doch in sozio-ökonomischer und politischer Hinsicht ist die Region von erheblichen Unterschieden geprägt. Mehrere Staaten erlebten in den letzten 50 Jahren Auswanderungswellen aus politischen Gründen: Hunderttausende flohen vor Diktaturen ins Exil. Mit der Rückkehr zur Demokratie kehrten auch viele Exilanten in ihre Herkunftsländer zurück und wurden dort Zeuge, wie mangelnde wirtschaftliche Perspektiven oder fehlende öffentliche Sicherheit eine neue, aus anderen Gründen gespeiste Auswanderung hervorriefen. Heute weisen die Länder der Region sehr unterschiedliche Migrationsprofile auf: von Ländern mit Netto-Zuwanderung wie Costa Rica hin zu Ländern mit fortdauernd hoher Auswanderung wie El Salvador. Die komplexen Migrationsprofile umfassen etwa für Kolumbien und Ecuador auch Flüchtlinge, Transit- und Rückkehrmigration.
Die bisherige Forschung hat „Emigrant Policies“ in einzelnen Länderfallstudien oder entlang eines engen Ausschnitts politischer oder ökonomischer Dimensionen untersucht (Calderón 2004; Lafleur 2012; Escobar 2007, 2015). Die Arbeit von Margheritis (2016) umfasst mehrere Dimensionen, jedoch nur für wenige Länder. Bislang hat jedoch keine Studie die volle Breite der „Emigrant Policies“ für die ganze Region erfasst und vergleichend untersucht. Das diesem GIGA Focus zugrunde liegende Forschungsprojekt beschreitet hier Neuland. Es umfasst 22 Staaten der Region und hat für diese Daten erhoben, die ein sehr viel breiteres Raster von auf Emigranten gerichteten Politiken umfassen, als dies üblicherweise geschieht. Abbildung 1 zeigt diese vielfältigen Dimensionen. Neben der administrativen Dimension, die für die Umsetzung von „Emigrant Policies“ große Bedeutung hat, unterscheidet sie zehn Policy-Felder, in denen die Staaten auf ihre emigrierten Bürger gerichtete Politiken entfalten.