GIGA Focus Middle East

Identity, Participation, and Vision ‒ The Expectations That Moderate Islamists Have Yet to Fulfil

Number 2 | 2016 | ISSN: 1862-3611


  • Graffiti of the Rabaa sign on a house wall in Egypt.
    © Reuters / Amr Abdallah Dalsh
    Graffiti of the Rabaa sign on a house wall in Egypt.
    © Reuters / Amr Abdallah Dalsh

    In 2011, the Arab Spring raised great hopes of the democratisation of the Middle East – hopes which have, however, so far not been realised. In many countries that experienced protests and rebellions, not only the political situation but also the socio-economic and security situations are worse today than they were before the outbreak of the protests. The restored autocratic regimes are presenting themselves, as they did before 2011, as guarantors of a supposed stability.

    • The moderate Islamists who stepped up to reform their societies during the Arab Spring have become caught in the crossfire between confessionalism, polarising power struggles, and apocalyptic jihadism.

    • Identity-based conflicts between Sunni and Shia Muslims are behind most of the current conflicts in the eastern Arab region, be they the (civil) wars in Syria, Iraq, and Yemen or the domestic rivalries in Lebanon and Bahrain.

    • The conflicts have been driven by the competition for regional leadership between Sunni Saudi Arabia and Shiite Iran; rivalries within the Sunni camp between Saudi Arabia, Qatar, Turkey, and Egypt; strife between the Muslim Brotherhood, Salafists, and jihadists, as well as between secularists and Islamists; and the military coup against the Muslim Brotherhood in Egypt.

    • The rapid rise of the “Islamic State” and the appeal of its vision of a universal caliphate evince a fundamental dilemma: young people in particular have too few reliable socio-economic and political prospects, making them susceptible to such irrational promises of salvation.

    Policy Implications

    The political fate of the Middle East depends on the successful mastering of three fundamental challenges: First, the ethno-religious identity conflicts have to be defused. Second, governments and opposition forces need to develop participatory formulas for power sharing in order to overcome the political polarisation. Third, the societies of the region require realistic development prospects in the here and now to counter the Islamic State’s apocalyptic vision. International actors should bring moderate Islamists on board, because as authentic actors they can make an important contribution to bringing these crises under control.

    Identität, Partizipation und Vision: Drei Strukturkrisen der arabischen Welt

    Der Nahe Osten und Nordafrika sind seit Jahrzehnten von strukturellen Konflikten geprägt, deren Bewältigung eine schier unüberwindliche Aufgabe darstellt. Autoritäre Herrschaft, ökonomische Dauerkrisen, neoliberale Reformen, westliche Interventionen und zahlreiche Kriege haben korrupte Regime, institutionell unterentwickelte oder zerfallende Staaten, massive Wohlstandsgefälle, Flüchtlingsbewegungen und tief gespaltene Gesellschaften hervorgebracht.

    Die arabische Welt erlebte Anfang 2011 im Rahmen des Arabischen Frühlings eine einmalige Abfolge von Protesten und Aufständen, in denen sich die Akteure gegen diese Zustände wandten. Die lokalen Protestbewegungen beeinflussten und verstärkten sich wechselseitig in ihren Forderungen, Methoden und ihrer Symbolsprache, führten aber zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (Rosiny 2011). Durch Massenproteste und bewaffnete Aufstände wurden die autoritären Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen gestürzt. In weiteren Ländern rüttelten sie an der Herrschaft republikanischer und monarchischer Autokraten. Die Monarchen von Marokko, Jordanien, Kuweit und Oman konnten den Unmut der Bevölkerung durch moderate Reformen abfedern. In Bahrein und Saudi-Arabien schlugen die Könige die Proteste gewaltsam nieder. Lediglich in Katar und in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kam es nicht zu nennenswerten Demonstrationen (Bank, Richter, und Sunik 2014). In Syrien, Jemen, Libyen und im Irak führten Proteste und staatliche Repression zu bewaffneten Aufständen und Bürgerkriegen, teils mit massiver ausländischer Beteiligung.

    Die Protestierenden des Arabischen Frühlings waren sich in ihren allgemeinen Forderungen einig: dem Sturz autoritärer Herrscher, Menschenwürde und ausreichend Nahrung für jeden Bürger, Freiheit und Gerechtigkeit, dem Kampf gegen Korruption und Klientelismus. Die Ursachen ihrer Unzufriedenheit lassen sich dabei drei Topoi zuordnen:

    • Die Gesellschaften des Nahen Ostens durchleben eine Identitätskrise und suchen nach einer kollektiven Identität, die ihnen das Gefühl von Authentizität, Verbundenheit und Selbstachtung vermitteln kann. Die republikanischen Regime legitimierten ihre Herrschaft lange Zeit mit dem Antiimperialismus der postkolonialen Phase und einer Mischung aus arabischem und einzelstaatlichem Nationalismus. Dem lagen die Versprechen von Einheit, politischer Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung zugrunde. Doch die Realität sieht anders aus: Die Herrscher hielten an einzelstaatlichen Egoismen fest, ihre Länder blieben im Vergleich zu anderen Weltregionen politisch und (mit Ausnahme der ölfördernden Golfstaaten) auch wirtschaftlich und technologisch rückständig. Westliche Vorstellungen von Sozialismus, Demokratie und Neo-Liberalismus boten nach gescheiterten Experimenten keine Verheißung mehr. Viele der verhassten Autokratien nannten sich „sozialistisch“, der US-geführte Irakkrieg von 2003 war im Namen der Demokratisierung der Region geführt worden, und neoliberale Strukturanpassung hatte in vielen Ländern wie Ägypten, Syrien, Tunesien und Jordanien zum Rückzug der Staaten aus wichtigen Versorgungsfunktionen geführt.

    • Den nahöstlichen Staaten mangelt es an Möglichkeiten der Partizipation an gesellschaftspolitischen Entscheidungen sowie an Chancen der ökonomischen Entwicklung. Scheindemokratien mit Wahlfälschungen, Parteienverboten, Repression und Menschenrechtsverletzungen schränken die politische Freiheit der Bürger massiv ein. Sie sind aber nur ein Aspekt eines fundamentalen Partizipationsdefizits, das ökonomische, soziale und kulturelle Diskriminierung umfasst. Machthaber vergeben Arbeitsplätze und Dienstleistungen als Gunstbeweise über „Beziehungen“ an ihre eigene Klientel und bevorzugt innerhalb ihrer eigenen ethnisch-konfessionellen oder tribalen Gemeinschaft, und nicht entsprechend vorhandener Fähigkeiten, Erfahrung oder Bedürftigkeit. Der neoliberale Rückzug des Staates hat zu einer weiteren Umverteilung des Wohlstands von unten nach oben und zu massiver Jugendarbeitslosigkeit geführt. Die Menschen suchen deshalb vermehrt bei nichtstaatlichen Akteuren Schutz; angesichts mangelnder Alternativen sind dies oftmals Netzwerke der religiösen Gemeinschaften und islamistische Bewegungen.

    • Nicht zuletzt fehlt nahöstlichen Gesellschaften eine Vision, das heißt die Perspektive einer besseren Zukunft. Nationalistische und sozialistische Regime ­haben die Verheißungen von wirtschaftlichem und technologischem Fortschritt sowie von nationaler Unabhängigkeit nicht erfüllt. Die meisten Menschen wollen eine Teilhabe an der Moderne mit Zugang zu Konsumgütern, unabhängigen Medien und fordern ihre Freiheitsrechte ein. Anstelle einer blinden Imitation des Westens ist es ihnen wichtig, ein gewisses Maß an Authentizität zu ­bewahren.

    Im Arabischen Frühling spielten diese drei Dimensionen eine wichtige Rolle, was sich in den verwendeten Symbolen und den erhobenen Forderungen manifestierte. Protestierende trugen als Zeichen ihrer gemeinsamen Identität die Nationalflaggen und malten sich deren Farben ins Gesicht. Sie forderten politische Partizipation und ökonomische Teilhabe als garantierte Rechte statt wie bisher als Wohltätigkeitsakte des Obrigkeitsstaats. Schließlich verlangten sie als Vision ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit. Der Erfolg moderater Islamisten bei ersten freien Wahlen nach dem Arabischen Frühling lässt sich damit erklären, dass sie alle drei Ebenen – Identität, Partizipation und Vision – bedienten. Je mehr sie sich jedoch in konfessionelle Gegensätze und machtpolitische Konflikte hineinziehen ließen, desto erfolgreicher traten salafistische und dschihadistische Akteure auf, die von der Spaltung und Polarisierung profitierten und diese noch verschärften.

    Islamismus im Arabischen Frühling

    Die Protestbewegungen im Arabischen Frühling blieben anfangs weitgehend führerlos und ohne dominante Ideologie. Dies half ihnen bei der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und schützte sie vor staatlicher Repression, da ihre Anführer nicht wie bei früheren Protesten einfach verhaftet werden konnten. Das Fehlen von Führungspersönlichkeiten erwies sich im Verlauf der Proteste aber auch als Schwäche, denn die mangelnde Kohärenz der unterschiedlich motivierten Oppositionsgruppen führte, je länger sich die Proteste hinzogen, zu Fragmentierung und Konkurrenz. Es fehlte ein gemeinsames Programm zur Durchsetzung der Forderungen und zur Neugestaltung der politischen Ordnung. Dieser Mangel an Alternativen erklärt unter anderem, warum in vielen Ländern Islamisten als die eigentlichen Gewinner der Proteste hervorgingen. Moderat islamistische Parteien wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Ennahda in Tunesien oder die PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) in Marokko boten ein religiöses Identitätspaket und die Vision einer gerechteren, „islamischen“ Gesellschaft. Sie verfügten teilweise über Erfahrungen mit Institutionen der schulischen und beruflichen Bildung, der Sozialversorgung und sie besaßen eigene Wirtschaftsunternehmen, weshalb ihnen die Wählerschaft zutraute, einen Staat zu regieren.

    Bereits in der Frühphase beteiligten sich Reform-Islamisten an den Protesten des Arabischen Frühlings, und in den ersten freien Wahlen konnten sie beachtliche Erfolge verbuchen. In Tunesien, Marokko und Ägypten wurden sie bei ersten freien Wahlen stärkste Kraft, und auch in Libyen, Algerien und Jemen erzielten sie gute Wahlergebnisse. Neben ihnen haben sich Salafisten als unerwartete zweite Kraft im islamistischen Spektrum etablieren können. Sie vertreten im Gegensatz zu moderaten Islamisten ein fundamentalistisches Religionsverständnis und sehen in der buchstabengetreuen Imitation der ersten Generationen der frühislamischen Gemeinde eine Lösung für heutige Probleme. Salafisten bezichtigen andere sunnitische Muslime des Glaubensabfalls, und Mitglieder der schiitischen Minderheit sehen sie als Häretiker an.

    Viele westliche Beobachter waren überrascht, dass islamistische Akteure eine so breite Zustimmung erhielten und sich gegen liberale, jugendlich-revolutionäre Oppositionskräfte durchsetzen konnten, die im Medienbild des Westens die Hauptakteure der Proteste gewesen waren. Denn sie hatten dessen buntes, urbanes Spektrum dominiert, das Anfang des Jahres 2011 live im Fernsehen zu sehen war, etwa auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo.

    Die Proteste des Arabischen Frühlings verliefen regional sehr unterschiedlich. Erfolgreich waren sie unter Beteiligung moderater Islamisten in den weitgehend homogen sunnitischen Republiken Nordafrikas, nicht jedoch in den konservativen Golfmonarchien, die selbst einen starken Islambezug ihrer Königshäuser propagieren. In den heterogenen ostarabischen Gesellschaften spielte hingegen der konfessionelle Sunna-Schia Gegensatz eine dominante Rolle bei der Eskalation von Demagogie und Gewalt. Sunnitische und schiitische Islamisten protestierten dort in der Regel nur gegen die Machthaber der jeweils anderen Konfession, hielten sich jedoch mit Kritik an autoritären Herrschern, die ihrer eigenen Glaubensrichtung angehören, zurück. Die Regime von Bahrein, Syrien und Saudi-Arabien titulierten die Opposition der anderen Konfession als „Agenten“ externer Mächte und forderten den Gehorsam der eigenen Konfessionsangehörigen ein. Wer keine Gefolgschaft leistete, galt als Verräter an der eigenen Gemeinschaft. Im Machtvakuum zerfallender Staaten in Syrien, Irak, Jemen und Libyen breiteten sich zudem dschihadistische Gewaltakteure wie al-Qaida und der „Islamische Staat“ aus, die gemäß ihres salafistischen Weltbildes einen sunnitischen Chauvinismus und den Hass auf Schiiten propagieren und diesen in Form von Bombenanschlägen praktizieren. Damit verschärfen sie zudem den Konfessionalismus weiter.

    Moderate und radikale Islamisten bestimmen heute maßgeblich das politische Geschehen im Nahen Osten. Sie sind als politische Parteien in fast allen Parlamenten vertreten. In einigen Ländern stellen sie alleinig die Regierung, so in Iran, Saudi-Arabien, in der Türkei, im Gazastreifen und im „Islamischen Staat“; in anderen sind sie an Regierungen beteiligt, etwa im Irak, Libanon, in Kuweit, Marokko und Tunesien. Mehr als fünf Jahren nach Ausbruch des Arabischen Frühlings ist die Hoffnung auf einen fundamentalen Wandel der politischen Verhältnisse der Resignation gewichen. Das Verlangen der Protestierenden nach breiter politischer Partizipation und wirtschaftlichem Aufschwung war groß, wurde jedoch von den neuen und den reformierten Regimen weitgehend enttäuscht. Auch die ägyptische (islamistische) Muslimbruderschaft hat die hohen, in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt.

    Islamisten stellen keine homogene Bewegung dar, sondern treten in unterschiedlichen Varianten auf. Oft stehen sich Vertreter verschiedener Richtungen als Konkurrenten gegenüber: sunnitische und schiitische Islamisten, sunnitische Muslimbrüder, Salafisten und verschieden radikale Dschihadisten. In Syrien und im Irak eskalierten ideologische und konfessionelle Gegensätze in Bürgerkriegsgewalt. Dabei geht es weniger um politische Forderungen als um die Verteidigung und Machtausweitung der eigenen Identitätsgruppe beziehungsweise die Schwächung oder sogar die Ausrottung konkurrierender Gemeinschaften. Der „Islamische Staat“ nutzte das entstandene Machtvakuum in beiden Ländern, um ein apokalyptisches Terrorregime und den Kern eines globalen Kalifats zu errichten.

    Herausforderungen für moderate Islamisten

    Moderaten Islamisten begegnen die drei Topoi regionaler Herausforderungen – Identität, Partizipation und Vision – in drei Konflikten:

    Konfessionelle Identitäten und Gewalteskalation

    Viele regionale Akteure bestimmen ihre Zugehörigkeit mittlerweile primär über ihre Konfession. Der Sunna-Schia-Gegensatz determiniert die politische Allianzbildung und verschärft die regionalen Gegensätze. Im ostarabischen Raum bilden seit 2011 Repression seitens der Regime, in Gewalt umschlagende Proteste und konfessionelle Gegensätze eine gefährliche Mischung. In Syrien, im Irak und in Jemen schlugen friedlich begonnene Proteste in internationalisierte Bürgerkriege entlang konfessioneller Identitäten um. Schiiten überwogen bei den Protesten gegen die sunnitischen Regime von Bahrein und Saudi-Arabien, Sunniten bei den Protesten und dann bewaffneten Aufständen gegen die schiitisch dominierte Staatsmacht in Syrien und im Irak. Diese konfessionelle Polarisierung spiegelt sich auch in der Unterstützung der Aufstände beziehungsweise der bedrängten Regime durch Regio­nalmächte wider: Sunnitische Golfmonarchien und die Türkei unterstützen sunnitische Rebellen in Syrien und im Irak, aber Saudi-Arabien half dem sunnitischen Königshaus von Bahrein, einen Aufstand gewaltsam zu unterdrücken. Im Jemen intervenierte im März 2015 eine sunnitische Militärmacht unter saudischer Führung, um einen bewaffneten Aufstand schiitischer Huthis niederzuschlagen. Iran wiederum begrüßte die Proteste gegen das sunnitische Establishment in ­Nordafrika, Bahrein und Jemen, während es in Syrien und im Irak die schiitisch dominierten Autoritäten beschützt.

    Der Kampf um regionale Führung zwischen Saudi-Arabien, VAE, Katar und der Türkei auf der einen Seite und Iran auf der anderen Seite gewann immer mehr die Form eines Sunna-Schia-Schismas, da Iran als schiitische Führungsmacht gilt und sich die anderen genannten Staaten als sunnitische Schutzmächte gegen einen mutmaßlichen schiitisch-persischen Expansionismus in die arabische Welt verstehen. Ihr Feindbild ähnelt dem salafistischer Dschihadisten, die Schiiten als „Verweigerer“ (rāfida) beschimpfen und bekämpfen, weil sie das frühe sunnitische Kalifat ablehnen. Dieser Konfessionalismus beschleunigte in den heterogenen ostarabischen Gesellschaften in Syrien, Irak und Jemen die Gewaltspirale und den Staatszerfall.

    Der sunnitisch-schiitische Konfessionalismus ist allerdings nicht der einzige innerislamistische Gegensatz, der derzeit ausgetragen wird. Die sunnitischen Mächte sind ihrerseits intern über ihre Unterstützung (Katar und Türkei) beziehungsweise Unterdrückung (Saudi-Arabien und VAE) der Muslimbruderschaft gespalten. Sie helfen unterschiedlichen, sich bekämpfenden sunnitisch-islamistischen Milizen in Syrien und in Libyen. Diese Konkurrenz tritt im gemeinsamen Kampf gegen das verhasste (alawitisch-schiitische) syrische Regime von Baschar al-Assad und angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ zeitweise in den Hintergrund.

    Aufstieg und Fall der Muslimbruderschaft in Ägypten

    In Ägypten erhielt die moderate Muslimbruderschaft bei den Wahlen von 2011 und 2012 die Mehrheit der Parlamentssitze. Sie war bereits 1928 als erste islamistische Bewegung gegründet worden und bildet seitdem den Archetypus sunnitisch-islamistischer Bewegungen über den Nahen Osten hinaus. Im Juni 2012 gewann ihr Parteivorsitzender, Muhammad Mursi, auch die ersten freien Präsidentschaftswahlen. Erstmals in der Geschichte der arabischen Welt waren Islamisten durch offene und freie Wahlen an die Macht gelangt, ohne dass sie – wie 1992 in Algerien – sofort weggeputscht oder wie die Hamas-Regierung 2006 mit internationalem Boykott belegt worden waren.

    Es gelang der Muslimbruderschaft indes nicht, die hohen, in sie gesetzten Erwartungen an eine schnelle Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zu erfüllen. Die strukturellen Schwächen Ägyptens ähneln denen anderer nahöstlicher Ökonomien: eine hohe Staatsverschuldung, ein aufgeblähter Staatssektor, in dem regimetreue Studienabgänger versorgt werden, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine krisenanfällige Abhängigkeit von wenigen Wirtschaftssektoren. Die Muslimbruderschaft war nicht in der Lage, diese Defizite zu beheben. Vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation noch, unter anderem weil der für Ägypten existentiell wichtige Tourismus wegen der politischen Unruhen einbrach und weil sich etablierte Netzwerke aus Politik, Militär und Ökonomie gegen eine Reform sträubten. Die Muslimbruderschaft versuchte nach ihrem Wahlerfolg, eine breite Koalitionsregierung aufzustellen, was jedoch am Unwillen potentieller Koalitionspartner scheiterte. Keiner wollte das Risiko eingehen, für das Scheitern der Reformen mitverantwortlich gemacht zu werden, weshalb die Muslimbruderschaft mit ihrer Mehrheit allein regierte. Sie versuchte den Brückenschlag zwischen pragmatischer Reformpolitik und islamischer Symbolpolitik, brachte dadurch aber sowohl Säkulare, denen sie zu religiös war, als auch Salafisten, denen sie zu gemäßigt islamistisch war, gegen sich auf. Als der später unter fragwürdigen Umständen zum Staatspräsidenten gewählte General Abdel Fattah Sisi am 3. Juli 2013 mit Unterstützung Saudi-Arabiens und der VAE putschte, konnte er sich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit oder zumindest deren stillschweigender Akzeptanz sicher sein. In den folgenden Wochen starben zahlreiche Mitglieder der Muslimbruderschaft, bei der Erstürmung eines Protestlagers in Rab’a al-Adawiya allein bis zu 1.000 Menschen. In den folgenden Jahren verurteilten Gerichte über eintausend Anhänger der Bewegung inklusive des entmachteten Präsidenten Mursi zum Tod. In Ägypten und den VAE wurde die Muslimbruderschaft verboten.

    Dschihadismus und der „Islamische Staat“

    Reform-islamistische Parteien griffen im Arabischen Frühling die nicht eingelösten Versprechen und Forderungen des arabischen Nationalismus nach Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Partizipation, Entwicklung und Würde auf und präsentierten sie in einem authentisch islamischen Gewand. Allerdings gelang es ihnen selbst dort, wo sie (mit)regier(t)en nur bedingt, diese Vision zu realisieren. Enttäuscht über das erneute Scheitern schlossen sich viele junge Menschen dem „Islamischen Staat“ an. Der Militärputsch in Ägypten schien das dschihadistische Narrativ zu bestätigen, dass Demokratie ein unislamisches Instrument des Westens sei, um die Muslime zu spalten und zu beherrschen (Lynch 2016a). Dschihadisten haben sich mittlerweile überall dort festgesetzt, wo die Gewalt zwischen Staat und Opposition eskalierte und die Staatsmacht desintegrierte, so in Syrien, Jemen, Libyen, im Irak und in Teilen Ägyptens.

    Als der irakische al-Qaida-Zweig, der „Islamische Staat Irak“, im April 2013 die Vereinigung mit dem syrischen al-Qaida-Ableger, der Nusra-Front, zum „Islamischen Staat in Irak und Sham (Großsyrien)“ verkündete, lehnten die Nusra-Front und die Qaida-Mutterorganisation diese Zwangsvereinigung ab. Es begann ein bis heute anhaltender blutiger Machtkampf innerhalb des dschihadistischen Lagers. Mit der Ausrufung eines Kalifats am 29. Juni 2014 proklamierte Abu Bakr al-Baghdadi die Einheit der Muslime und verlangte die Unterwerfung seiner Konkurrenten. Alle Muslime weltweit seien zum Gehorsam gegenüber dem Kalifen und zur hijra verpflichtet, das heißt zur Auswanderung aus dem von „Ungläubigen“ beherrschten Territorium in den „Islamischen Staat“. Mit seiner apokalyptischen Vision einer Endschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen und massivem Medieneinsatz gelang es dem IS, zehntausende ausländische Kämpfer zu mobilisieren und ein regionales Netzwerk an terroristischen Zellen zu knüpfen (Rosiny 2014).

    Der kometenhafte Aufstieg des IS belegt, welchen Einfluss eschatologische Bewe­gungen in Zeiten massiver Unsicherheit gewinnen können. Aus dem erfolgreichsten Transformationsland des Arabischen Frühlings, Tunesien, stammen (nach Saudi-Arabien) die meisten Kämpfer, die in Syrien und im Irak ein beachtliches Territorium erobert haben. Professionelle Propagandavideos zeigen einen vermeintlich idealen Staat, in dem Gottes Gesetz an Stelle korrupter menschlicher Regeln gelten soll. In Wirklichkeit herrscht dort ein Terrorregime, das die Bevölkerung mit brutaler Gewalt gängelt. Der IS verbreitet mit seinen Hinrichtungsmethoden und Terroranschlägen weit über die Region hinaus Angst und Schrecken. Massaker an Minderheiten, Angriffe auf die Staatlichkeit des Irak und Syriens und Drohungen gegen die Nachbarstaaten Jordanien, Israel, Libanon und Saudi-Arabien haben eine erneute westliche Militärintervention provoziert und die Muslime tief verunsichert. In der Bewertung des IS, ob er eine Bedrohung für die Muslime oder ein nützlicher Schutz gegen die „schiitische Gefahr“ sei, sind sunnitische Muslime gespalten. Selbst in der Frage, wer „eigentlich“ hinter dem IS stecke, sind sich seine Gegner uneinig: die USA, Israel, Iran, Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei?

    Mit seiner Brutalität und Intoleranz gegen andere Religionen und Glaubensauffassungen hat der IS das Image des Islam weltweit schwer beschädigt, und sein religiöses Heilsversprechen eines permanent expandierenden Kalifats ist gescheitert. Er erlebt seit 2015 zudem massive Einbußen an Territorium, Einnahmen und Kämpfern, und es ist keine Frage mehr, ob sondern wann sein Ende als Territorialstaat kommen wird (Rosiny 2016). Von der Stärke seiner Gegner hängt wesentlich ab, ob er danach als Terrororganisation aus dem Untergrund weiteroperieren kann oder ob andere dschihadistische Bewegungen wie al-Qaida seine Ressourcen und Anhänger übernehmen werden. Es ist auch ungewiss, welchen Einfluss seine zentralen Ideologeme – Apokalyptik, Schiitenhass und religiös verbrämte bestialische Gewalt – in der Region behalten werden. Für eine nachhaltige Gegenstrategie zu seiner Überwindung kommt dabei moderaten Islamisten eine zentrale Rolle zu.

    Welche Zukunft haben moderate Islamisten?

    Die großen Hoffnungen des Arabischen Frühlings auf eine grundsätzliche Reform der Region sind mittlerweile in einem Flächenbrand aus Krisen- und Kriegsherden untergegangen (Lynch 2016b). Moderate Islamisten waren einst populärer als viele andere Oppositionsgruppen, weil sie eine authentische Identität anboten, Forderungen nach Partizipation glaubwürdig vertraten und die Vision einer besseren Gesellschaft offerierten. Bislang haben sie die in sie gesetzten Erwartungen nur bedingt erfüllen können, und die drei Konflikte – Konfessionalismus, polare Machtgegensätze und der Aufstieg des IS – haben sich zu einer Herausforderung für sie und die gesamte Region entwickelt.

    Werden sich die Stellvertreterkriege in Syrien, im Irak, in Jemen und Libyen zu einem regionalen Krieg ausweiten? Oder gelingt es moderaten Islamisten der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften, an ökumenische Initiativen und überkonfessionelle politische Allianzen anzuknüpfen, die es in der Vergangenheit bereits gab?

    Der gewaltsame Sturz des gewählten ägyptischen Präsidenten Mursi und die massive Repression gegen die Muslimbruderschaft waren ein herber Rückschlag für moderate sunnitische Islamisten. Für sie stellt sich dadurch die Frage politischer Partizipation und der Implementierung eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts neu. Werden sie sich nach dieser desillusionierenden Erfahrung künftig noch auf das Experiment kompetitiver freier Wahlen einlassen? Werden sie integrative politische Modelle der Machtteilung unterstützen, mit denen sie den Brückenschlag zu Säkularen und Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften schaffen?

    Wird es sunnitischen Islamisten des Mainstream gelingen, sich glaubwürdig von der radikalen Interpretation ihrer Religion durch Dschihadisten wie der des IS zu distanzieren? Können sie dem Terrorstaat eine positive, tolerante und integrative gesellschaftspolitische Vision entgegenstellen?

    Die Protestbewegungen im Nahen Osten lassen sich mit dem unerfüllten Verlangen nach Identität, Partizipation und der Vision einer besseren Zukunft erklären. Der Erfolg moderater Islamisten und anderer politischer Akteure wird davon abhängen, ob sie Antworten auf diese drei Herausforderungen finden. Sie müssen eine tolerante, pluralistische nationale Identität statt eines ethnischen und konfessionellen Chauvinismus etablieren, sich in inklusiven Regierungen der Machtteilung engagieren und realistische Perspektiven, gerade auch für die Wirtschaftsentwicklung, anstatt unerfüllbare Visionen entwickeln. Die tunesische Ennahda scheint diesem Ideal am nächsten zu kommen. Sie versteht sich in ihrem neuen Grundsatzprogramm vom Mai 2016 als „demokratische, politische Partei mit islamischer Referenz und nationalem Bezugsrahmen“. Ihr Vorsitzender, Rachid Ghannoushi, fasst ihr bisheriges Verhalten in einer Regierung der Machtteilung mit säkularen Parteien und ihre Perspektive folgendermaßen zusammen: „Ennahda ist entstanden, um die Identität zu verteidigen, sie hat die demokratische Transition gewährleistet und konzentriert sich heute auf die Wirtschaftsreform“ (Lübben 2016).

    Wirtschaftsreform oder Apokalyptik – so lassen sich die konträren Positionen und Visionen des Islamismus derzeit zusammenfassen. Moderate Islamisten werden ihren Beitrag dazu leisten müssen, die Herausforderungen nahöstlicher Gesellschaften zu bewältigen. Gelingt dies nicht, werden nicht nur sie sondern die Gesellschaften insgesamt verlieren: Motivierte und besser ausgebildete junge Menschen werden weiterhin in großen Zahlen emigrieren – und die Zurückgebliebenen werden anfällig für die Heilsversprechungen radikaler Prediger bleiben.


    Footnotes


      References


      Research Programmes

      How to cite this article

      Stephan Rosiny (2016), Identity, Participation, and Vision ‒ The Expectations That Moderate Islamists Have Yet to Fulfil, GIGA Focus Middle East, 2, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-47995-7


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